Hunter
17.07.2189, 06.34 Uhr – Tuppula-Ebene
„Bewegung, Bewegung! Ihr seid hier nicht im Urlaub! Schwingt eure Ärsche über die Line!“ Der gebellte Befehl des Hunteroffiziers schallte als Echo von den steil abfallenden Bergwänden zurück. Die Jungen und Mädchen, darauf gedrillt zu gehorchen, angetrieben, ihre Körper zu stählen, jedes Hindernis zu überwinden und dabei ihre eigenen Grenzen zu überschreiten, rannten mit hohem Tempo auf die nur zehn Zentimeter breiten Stahlausleger zu. Diese spannten sich riesigen Fingern ähnlich über den Abgrund. Fünf Finger auf der einen Seite, fünf auf der anderen, als würden sie sich an den Felsen festkrallen. Dazwischen lag eine Lücke von zwei Metern. Diese mussten die Anwärter überwinden, um auf die andere Seite der gigantischen Schlucht zu gelangen. Nur ein Teil der Line, der jeden von ihnen das Leben kosten konnte. Es gab kein Netz. Keine Sicherungsseile. Nur die Gewissheit, dass ihnen der freie Fall in die bodenlose Tiefe den Tod brächte. Auf der gegenüberliegenden Seite ragten die Ruinen der Festungen - die einst große Herrscher beherbergten und später viel beliebte Touristenziele waren - wie grimmige Zuschauer über die Felsen. „Ich will euch nicht atmen hören! Ich will gar nichts von euch hören, noch nicht mal, wenn ihr fallt!“ Erbarmungslos brüllte der Offizier die Kinder an, trieb sie vorwärts, geradewegs auf die Schlucht zu.
Ein Zögern kam nicht in Frage. Wer die Line nicht besiegte, war es nicht wert, ein Hunter zu sein.
Emely wusste das.
Sie wollte leben!
Sie wollte jagen.
Sie war nicht dankbar, dass sie zum Leben als Hunter verpflichtet war. Doch das war das Wenigste, was sie ihren Eltern schuldete.
Die Rache trieb sie an. Jedes Kind, dessen Familie durch einen Angriff der Nachtwesen zerstört wurde, kam in die Hunterausbildung. Auch wenn Emely zur Zeit des Verbrechens erst knapp drei Monate alt gewesen war, so hatte man ihr doch oft genug erzählt, wie ihre Familie umgekommen war. Sie hatte Videos von dutzenden ähnlicher Angriffe gesehen. Sie wusste, dass die Bestien vor nichts und niemandem Halt machten.
Genau wie die anderen Kinder.
Aber nicht alle waren zu einem Leben als Hunter tauglich.
Ihre Muskeln in den Beinen schmerzten von dem langen, beschwerlichen Lauf durch den verwilderten Wald. Ihre Arme brannten von dem Gewicht des Lundlanschwertes. Ihre Rückenmuskeln ächzten unter dem Gewicht des Rucksacks, indem sie nichts weiter als Steine mit sich trug.
Zwanzig Kilo Steine.
Kein Wasser, keine Nahrung, kein Pflaster, keine Creme… nur Steine.
Ihre Lungen füllten sich gierig mit Sauerstoff; ihre Beine liefen weiter. Angetrieben von dem Bewusstsein, dass sie gehorchen musste.
Dass sie eine Pflicht zu erfüllen hatte.
Dass jeder Hunter gebraucht wurde. Selbst wenn sie wusste, dass der Tod eines Hunters einkalkuliert war.
Die Augen auf das gegenüberliegende Areal gerichtet, folgte sie Logan, der bereits zum Sprung auf die nächsten Ausleger ansetzte. Ohne Zögern stieß sie sich mit ihrem linken Fuß ab, landete ausbalanciert auf dem rechten und rannte weiter. Die Befehle des Offiziers rauschten in ihren Ohren.
Jemand fiel.
Schrie.
Den Hohn, der in der Stimme des Hunters lag, konnte sie nicht ignorieren. Obwohl man ihr eingetrichtert hatte, dass sie keinerlei Gefühle zeigen durfte, durchfuhr ein jäher Schmerz ihren Brustkorb. Sina fiel. Kurz darauf auch Evan.
Wieder zwei Freunde weniger.
Sie sollte inzwischen daran gewöhnt sein. Doch es schmerzte jedes Mal. Emely drängte die Tränen zurück; sie wollte keine Bestrafung. Strafe dafür, dass sie Gefühle zeigte. Dafür, dass sich die Kinder anfreundeten.
Freundschaften waren verboten.
Jedes Objekt hatte grundsätzlich nur in einem Team zu funktionieren. Fiel ein Teil davon aus oder wurde verletzt, hatte man sich nicht um Gefühle zu kümmern, sondern den Part dieses Teils zu füllen. Zu ersetzen.
Als erster Stelle standen immer die Operation und deren hundertprozentige Ausführung. An zweiter die Operation. Und an dritter die Operation. Zu viele Hunter hatten ihr Leben verloren, weil sie sich um das eines Freundes sorgten oder einen Verletzten in Sicherheit bringen wollten. Trotzdem verstand Emely mit ihren zwölf Jahren nicht, wie ein Team funktionieren sollte, wenn es keine Kameradschaft gab. War sie egoistisch, weil sie nicht allein in dieser Welt sein wollte? Wie konnte es sein, dass die Nachtwesen die Kinder verschonten, wenn sie doch so unbarmherzig waren? So viele Fragen…
Ihre Gedanken beiseite drängend, rannte sie weiter. Nur noch fünfzehn Kilometer, dann wäre sie am Ziel. Für heute.
14.03.2191, 17.49 Uhr – Ausbildungszentrum „Doel Dan“
der Hunterorganisation (HO), Kellerebene, Raum K232
„Objekt Doe 72. Schon wieder.“ Ich heiße Emily, verdammt nochmal! Und ich bin ein Mensch!, schrie sie in Gedanken, während der Hunter sie aus seinen blauen Augen unter den buschigen Brauen scharf musterte. Äußerlich wirkte sie tadellos still, doch in ihrem Inneren brodelte es. Nicht aus Angst vor der sie erwartenden Strafe.
Nein, die hatte sie schon mehrmals hinter sich.
Umso mehr aus Wut, weil sie alle als Objekte behandelt wurden. Nicht als Menschen. Sie hatten zu funktionieren oder zu sterben. Einen anderen Weg gab es nicht. Dory war gestorben. Was nicht hätte sein müssen. Kein Tod in den letzten Jahren hätte sein müssen. Dory war genau wie sie erst 14 gewesen. Nur ein wenig Antibiotika und sie wäre wieder gesund geworden.
Wäre Emely nur ein wenig aggressiver gewesen!
Hätte sie nur effizienter gehandelt, dann wäre Dory noch am Leben.
Stattdessen hatte sie aus lauter Sorge um ihre Freundin deren Fieber und Unwohlsein gemeldet. Hatte gehofft, dass die Hunterausbilder sich um sie kümmern würden. Doch die hatten Dory lediglich in die untere Ebene des Zentrums gebracht und dort allein liegen lassen. Ohne ärztliche Hilfe. Ohne Wärme.
Ein Hunter musste funktionieren!
Musste funktionieren…
Der Mann vor ihr stand vom Tisch auf, lief um sie herum, legte seine riesigen Pranken auf ihre Schultern und drückte fest zu. Emely biss die Zähne zusammen und reagierte nicht auf den Schmerz, als sich seine Finger in ihre Muskeln gruben. „Objekt Doe 109 schien dir wichtig zu sein. Warum?“ Emely wollte ihn anbrüllen, dass Dory kein Objekt gewesen war. Doch sie tat es nicht. „Es schien mir wichtig. Jeder verlorene Hunteranwärter ist ein Vorteil für die Nachtwesen.“, antwortete sie wie aus dem Lehrbuch; ohne jegliche Regung. Oh ja, da stand es tatsächlich geschrieben. Aber behandelt wurden sie wie Objekte, die jederzeit ersetzt werden konnten. Der Hunter schnaubte verächtlich, packte sie an den schulterlangen Haaren, knallte ihren Kopf auf den Tisch, drückte seinen Unterarm gegen ihren Nacken und hielt sie in dieser Stellung fest. „Und du glaubst, das gibt dir das Recht, auf einen Arzt für Objekt Doe 109 zu bestehen? Wer seinen Körper noch nicht mal gegen ein paar Bakterien abschotten kann, kann sich auch nicht gegen Nachtwesen behaupten.“
Mit Nachdruck presste er sie auf den Tisch, so dass Emely für einen Moment die Luft abgeschnürt wurde, doch sie regte sich nicht. „Das war ein Fehlurteil, das ich nicht entschuldigen kann.“, krächzte sie, wohl wissend, dass ihre Strafe dadurch nicht ausblieb. „So ist es.“, knurrte der Mann, dessen schwarze Uniform seinen drahtigen Körper noch imposanter erscheinen ließ. Mit ungeheurer Kraft zerrte er sie an den Haaren von ihrem Stuhl, bugsierte sie an die Wand und löste ihre Handschellen, die auf ihrem Rücken verschlossen waren. „Zieh dich aus!“, grunzte er barsch, wobei er sie unverhohlen und lüstern ansah. Emely folgte dem Befehl, zog sich bis auf den Slip aus und ließ es zu, dass er ihre Hände und Füße an die Wand kettete. Der Beton fühlte sich auf ihrem Oberkörper, ihren Oberschenkeln und ihrem Bauch eiskalt an. Aber das erinnerte sie daran, dass sie lebendig war.
Kein Objekt, sondern ein denkendes, fühlendes Wesen.
Der erste Peitschenhieb war immer der Schlimmste.
Sie hörte das Surren der Peitsche, diesen sausenden, schrillen Ton, kurz bevor das Leder ihr Fleisch traf. Auspeitschen war eine gängige Strafe der HO, wobei es einigen Huntern sichtlich Vergnügen bereitete, die Anwärter zu quälen. Derjenige, an den sie heute geraten war, gehörte dazu.
Zwanzig Schläge.
Emely zählte mit.
Sie musste sich beherrschen, um lautlos zu bleiben. Musste ihre Muskeln dazu auffordern, nicht zu beben. Doch der Hunter schien seinen Spaß zu haben. Nachdem ihr Rücken die volle Punktzahl kassiert hatte, hörte er nicht auf. Die Haut auf ihren Armen platzte auf, als die Peitsche darauf knallte. Ihre Beine begannen zu zittern, als er diese traf. Der Stoff ihrer Unterhose zerfetzte, ihre Pobacken vibrierten. Gott, der Typ lachte, kehlig und verhöhnend! Emely biss die Zähne fest zusammen; ihr wurde schwarz vor Augen. Wenigstens konnte sie nicht umfallen. Die Fesseln hinderten sie daran. Sie spürte, wie das Blut an ihr hinab lief, sich zu ihren Füßen auf dem Boden sammelte. Ihr Atem kam abgehackt in Form kleiner Wölkchen, denn im Keller war es eiskalt. Doch sie gab keinen Mucks von sich. Auch nicht, als der Hunter ihre Fesseln löste und sie unsanft zum Tisch stieß, auf dem sie kraftlos zusammenfiel. „Was für ein schöner Arsch!“, brummte der junge Mann, dessen Hände fordernd über ihren Hintern strichen. Mit einem einzigen Ruck riss er ihr die Überreste des Slips vom Körper und griff zwischen Emelys Beine. In ihrem Kopf explodierte die Gewissheit, dass er mit ihr machen würde, was ihm vorschwebte und sie keine Kraft mehr dazu hatte, sich zu wehren. Ihre letzten Reserven sammelnd, rappelte sie sich vom Tisch auf und trat um sich. Allerdings war der Mann im Vorteil. Unsanft packte er sie im Genick, drückte ihr Gesicht auf den Tisch und stieß ohne Vorwarnung zwei Finger in sie. Emely biss die Zähne zusammen, obwohl diese Erniedrigung beinah schlimmer war als die Schläge mit der Peitsche. „Hm, eine Jungfrau.“, grinste er spöttisch, als er gegen ihre Barriere stieß. „Umso besser!“ Emely konnte nichts tun. Und gleich recht nichts fühlen. Nun ja, fühlen schon. Bloß zeigen durfte sie es nicht. Sie hörte, wie er seine Hose öffnete, ließ es mit fest zusammen gekniffenen Augen über sich ergehen, als er sich an ihr verging, stöhnend in ihr kam und sie als Hure bezeichnete, bevor er ihr das elektronische Halsband anlegte. Dieses machte es ihr unmöglich den Raum zu verlassen. Es sei denn, sie wollte ihren Kopf verlieren. Und zwar wortwörtlich.
„Stell dich an die Wand!“, brüllte er, nachdem er seine Uniform gerichtet hatte, drehte den Wasserschlauch auf, der an der linken Hälfte des Raumes befestigt war und sprühte sie mit dem eisigen Strahl ab. „Umdrehen!“, befahl er barsch, um auch ihre Vorderseite von Blut und anderen Dingen zu reinigen. Er spülte sogar ihr Geschlecht, um sicher zu gehen, dass keine Überreste seines Vergehens, was in der HO durchaus geduldet wurde, übrig blieben. Der Hunter packte sie am Kinn, leckte über ihr Gesicht und schnaubte verächtlich. „Kleine Schlampen wie du machen es nicht lange.“
Dann drehte er sich um, drehte das Wasser ab, steckte den Schlauch zurück in seine Halterung und schlenderte - die Hände in den Hosentaschen vergraben - aus dem Raum.