Alpha & Omega
Regina schluckte hörbar ihr Entsetzen hinunter und presste die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien. Was sie da hörte, war nicht misszuverstehen. Grob gesagt: Es war ein Desaster. Die Tür zu Ryans Arbeitszimmer war geschlossen; dennoch konnte sie seine Stimme klar und deutlich hören. Ebenso die einer Frau, die stöhnte und keuchend Fragen über Regina stellte. Wieder schluckte sie. Doch diesmal schüttelte sie den Kopf, schloss die Augen und fasste einen Entschluss. Leise, um sich nicht bemerkbar zu machen, schlich sie von der Tür weg und stieg die Treppen zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Das riesige Haus von Ryan hatte mehr als eines davon; ihres lag im Obergeschoss. Genau wie die anderen Räume war es geschmackvoll, elegant und vor allem teuer eingerichtet.
Angespannt ließ sie sich aufs Bett sinken. Hatte Ryan wirklich so von ihr gesprochen? Ja, es sei denn, ihre Ohren litten an akustischen Verstopfungen. Obendrein hatte er seine Sekretärin bei sich, mit der er offensichtlich keine Unterlagen durchging.
Regina lachte verächtlich. Wie hatte sie nur so dämlich sein können? Er – der dunkelhaarige, große, attraktive Mann liebte sie – die pummelige, kleine Durchschnittsfrau mit überdurchschnittlichem Konto? Über sich selbst den Kopf schüttelnd, senkte sie ihr Gesicht in die Hände und unterdrückte die Tränen. Sie liebte diesen Mann. Doch alles, was er wollte, war ihr Geld. Er schien wohl doch nicht so wohlhabend zu sein, wie das elegante Haus ihr vorgegaukelte. Und ebenso wenig charmant oder verliebt in sie, wie er sie glauben ließ. Er hatte sie im Beisein der anderen Frau Specki genannt, was ihr fast noch mehr weh tat, als die Tatsache, dass er sie betrog und nach Strich und Faden belogen hatte.
Sie selbst hatte er noch nicht einmal geküsst!
Sie kannten sich jetzt gut ein Jahr; lebten seit drei Monaten zusammen. Aber da sie in letzter Zeit ständig unter Termindruck gestanden und für ihre Arbeit gelebt hatte, war ihr nicht mal aufgefallen, dass sie sich stetig voneinander entfernten statt enger zusammen zu rücken. Liebe auf den ersten Blick? Mit Zärtlichkeiten und Sex warten bis nach der Hochzeit?
Regina schallt sich für ihre eigene Dummheit. War sie denn derart bedürftig, dass sie sich nach der letzten schmerzhaften Trennung von ihrem damaligen Freund und dem Verlust ihrer Eltern mit dem erstbesten – zugegeben sehr attraktiven und hin und wieder äußerst charmanten Mann – zufrieden gab?
Zitternd kramte sie ihr Handy aus der Hosentasche ihrer verbeulten Jeans. Im Gegensatz zu Ryan legte sie keinen großen Wert auf ihr Äußeres. Vielleicht war das auch ein Grund, weswegen er ihr gegenüber keine echten Gefühle empfand. Sie schüttelte den Kopf.
Nein, das war es nicht.
Er liebte sie nicht. Hatte er nie und würde er nie. Sonst würde er sie wohl kaum betrügen! Alles was er wollte war ihr Geld. Wie hatte er zu der Frau gesagt? Ach ja, sobald sie verheiratet wären, wäre er der Erbe ihres Vermögens. Darauf hatte die Tussi schallend gelacht und gemeint, dass ein Unfall ja so schwer nicht vorzutäuschen wäre. Er plante schon ihr Ableben! Konnte er tatsächlich so schnell als Alleinerbe gelten? Mit zittrigen Fingern wählte sie die Nummer ihres besten Freundes. „Busch.“, ertönte es am anderen Ende der Leitung. „Erik, hallo. Darf ich dich kurz stören?“
„Regina, hi, klar. Du darfst immer stören, das weißt du doch.“
„Hast du Zeit? Können wir uns irgendwo treffen?“ Bloß nicht heulen, dachte sie. „Du klingst gar nicht gut. Willst du zu mir kommen? Oder lieber in ein Cafe?“
„Ist mir egal.“
„Gut, dann in zwanzig Minuten im All-Inn“?
Regina nickte am Telefon und bestätigte Erik ihr Erscheinen mit einem knappen Ja, bevor sie auflegte.
Noch immer hing ein Kloß in ihrem Hals. Rücklings ließ sie sich aufs Bett fallen, verschränkte die Arme unter ihrem Kopf und betrachtete die mit Stuck verzierte Decke. Für ein, zwei oder fünf Minuten.
Pah, kam gar nicht in Frage, dass sie Trübsal blies.
Ryan würde sich wundern! Entschieden schwang sie sich aus dem Bett, schlüpfte in ein paar bessere Hosen, zupfte ihr Top zurecht und fuhr sich mit den Fingern durch ihre ewig aufgeplusterten, rotblonden, schulterlangen Haare. Wie immer verzichtete sie auf Make-up. Wem sollte sie etwas vormachen? Sie war nun mal keine todschicke Designertussi. Für ihr Gewicht war sie viel zu klein, was an einigen Stellen ihrer knapp 1,60 m für sie viel zu deutlich erkennbar war. Wie gern würde sie ein wenig abnehmen, doch ihr fehlte der Ansporn. Ihr innerer Schweinehund redete ihr immer wieder mit einem breiten Lächeln und einem imaginären Augenrollen ein, dass es lächerlich wäre, wenn sie durch die Gegend joggte. Alle Leute würden sich nach ihr umdrehen und sie auslachen. In dem Punkt stimmte sie ihm zu.
Erik tat das nicht.
Er fand ihre Proportionen genau richtig. Wo hatte der nur seine Augen? Weil sie sich zu pummelig fühlte, versteckte sie sich allzu oft hinter ihrem dicken Brillenmodell. Dabei brauchte sie die Brille eigentlich nur beim Lesen. Ausatmend öffnete sie die Tür.
Niemand zu sehen.
Weder auf der Treppe, noch in der riesigen Vorhalle. Das Parkett war auf Hochglanz poliert. Wenn man wollte, konnte man sich in dessen spiegelnder Oberfläche schminken, Pickel ausquetschen, Grimassen schneiden oder kontrollieren, ob die Unterwäsche vorzeigbar war – sofern man einen Rock trug.
Darauf bedacht keine Geräusche zu machen, ging sie hinunter, schnappte sich eine ihrer Jacken von der Garderobe, griff nach ihrem Schlüssel sowie ihrer Handtasche und schlüpfte unauffällig zur Tür hinaus.
Kalter Wind schlug ihr entgegen.
Obwohl es erst früher Nachmittag war, war es auffallend dunkel. Fast hatte es den Anschein, als hätte das Wetter vor sie aufzuhalten. Schnaubend schüttelte sie den Kopf. Ihre Haare wehten in ihr Gesicht und ihren Mund, was sie noch mehr verärgerte. Scheiß Wind. Scheiß Ryan! Zielstrebig lief sie zur Garage. Kurzerhand entschied sie sich dagegen. Sollten doch alle denken, sie wäre noch daheim. Wahrscheinlich würde es Ryan gar nicht auffallen, dass sie unterwegs war. Würde das Auto fehlen – nun, das stach ihm gewiss ins Auge.
Stolz erhobenen Hauptes schritt sie die kreisrunde Einfahrt hinab zum Ausgang des Anwesens. Die hohen Bäume, die die Straße säumten, schwankten bedrohlich. Die Zweige ächzten und knackten. Regina klappte den Kragen ihrer Jacke hoch und vergrub ihre Hände in den Jackentaschen. Schon lange hatte es keinen so kalten September mehr gegeben.
Wo war nur der Altweibersommer mit seinen goldenen Spinnfäden? Die lauen Abende, die den Sommer ausklingen ließen?
Fröstelnd bog Regina um die nächste Ecke, überquerte die Straße und erreichte gerade noch die vor ihr auftauchende Haltestelle, ehe ein feucht-fröhlicher Wolkenbruch über sie hereinbrach. „Toll.“ Sofort wünschte sie sich, doch das Auto genommen zu haben. Sie hatte zwar einen Schirm in ihrer Tasche, doch der würde bei diesem Wind keine Minute standhalten. Wenigstens hatte sie ein Haargummi dabei, mit dem sie ihre zerzauste Mähne bändigte. Augenrollend sah sie an den Fahrplan, was sich jedoch im selben Moment erübrigte. Der Bus bog soeben um die Ecke.
Sie beeilte sich einzusteigen, ohne nass zu werden, kaufte sich einen Fahrschein und setzte sich. Der Fahrer fuhr langsam. Konnte daran liegen, dass die Sichtweite bei einem geschätzten halben Meter lag. Innerhalb weniger Minuten stand die Straße fast fünf Zentimeter unter Wasser; eine dicke Nebelwand behinderte die Sicht. Regina wischte über die Fensterscheibe, doch das nützte nicht viel. Ihre Brille war ebenso nass und beschlagen. Hoffentlich stieg sie an der richtigen Haltestelle aus.
Ihre Sorge war unbegründet. Die Ansage im Bus verkündete kurze Zeit später ihr Ziel. Hastig zog sie die Kapuze über den Kopf und beeilte sich in das mäßig gefüllte All-Inn zu gelangen. Erik, der bereits wartete, begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung.
„Na Kleines, was ist los?“, fragte er, nachdem er für sie beide einen Irish Coffee bestellt hatte, der nun herrlich warm und dampfend vor ihnen stand. An ihrem Getränk nippend erzählte sie ihm ohne Umschweife, was sie vorhin im Haus gehört hatte. Erik reagierte genauso, wie sie erwartet hatte. „Mein Gott, dieses arrogante Arschloch!“ Theatralisch winkte er mit beiden Händen ab. „Ich hoffe doch, dass du dich von ihm trennst.“, stellte er mit Nachdruck fest. „Und ob. Darauf kannst du Gift nehmen.“
„Kleines, ich sage dir, Männer, die so ausschauen wie er, mit denen kann man nichts anfangen. Gut zur Deko, aber zu sonst nichts nütze. Nicht, dass ich dir dein Glück nicht gegönnt hätte, aber irgendwie passt ihr nicht zusammen.“
„Glaub mir, ich weiß das, Erik.“
„Schatzilein, sei nicht so geknickt. Ich meine nicht das Optische. An ihm ist irgendetwas, dass ich mit etwas Düsterem, Unergründlichen verbinde, wohingegen du die reinste und pure Lebensfreude bist.“
„Ach so? Ich dachte, du magst ihn!“ Erik zog eine Augenbraue in die Höhe und funkelte Regina herausfordernd an. „Ja, ich mag ihn. Er ist ein – hach – toller Hecht. Nur einmal… du verstehst schon, was ich meine. Dieser Kerl weiß einfach noch nicht, wie gut es mit einem Mann ist.“
„Woher willst du das wissen?“
„Schatzi, wenn das so wäre, wäre er längst bei mir.“, zwinkerte er ihr gewitzt zu. „Gott Erik, du bist unverbesserlich! Warst du letzte Woche nicht noch mit Antonie glücklich?“
„Adrian.“
„Oder so. Ich wusste, es war etwas mit A.“