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Blutbraut

 

"Oh Gott, oh Gott. Da waren überall Klauen und riesige Zähne. Glühende Augen, eine gespaltene Zunge und Schuppen. Riesige Schuppen. Oh Gott, ich werde nie wieder einen Fisch ansehen können, ohne an dieses Gemetzel zu denken!" Johannes – oder einfach kurz Jo – runzelte die Stirn angesichts der theatralischen Aussage, die die Frau mit einer an die Stirn gelegte, behandschuhte Hand unterstrich und sagte, was wohl jeder gesagt hätte, der sich ein wenig mit Drachen auskannte. "Sie lügen und Sie wissen es." Die Frau sah ihn empört an. "Was wissen Sie denn schon?" Jo lachte heiser. "Mehr als Sie ahnen, Frau Horn." Ein entrüstetes Schnauben entfuhr ihrem rot geschminkten Mund.

Abrupt stand sie von dem knarrenden Stuhl auf, drehte sich auf ihren viel zu hohen Absätzen um und eilte zur Tür. Doch so schnell gab er nicht auf. "Sie haben nie einen Drachen in Aktion gesehen und sie wissen es. Der erste Grund, warum ich das weiß ist, dass sie, gute Frau, noch leben. Und der zweite ist der, dass sie von einem Drachen, der wahrhaftig angreift, niemals - wirklich niemals - Schuppen, Zähne oder Klauen sehen werden."

Ihre Schultern ertappt bis an die Ohren ziehend, stakste sie schnurstracks aus der Tür hinaus auf den Flur und davon.

Jo hasste Lügner.

Besonders die, die glaubten damit durchzukommen, indem sie andere kompromittierten. Selbst wenn es die Drachen waren. Oder ganz besonders wenn es die Drachen waren. Die Frau hatte keine Ahnung, welches Unheil sie damit heraufbeschwören könnte. Die Drachen würden diese Äußerung nicht auf sich sitzen lassen, wenn es in die Presse käme. Sofern es in die Presse käme.

Jo hatte ihr die Wahrheit gesagt. Man sah von der sagenumwobenden Drachengestalt nur etwas, wenn diese für jemanden posierten, so wie es früher gewesen war.

Doch wenn sie angriffen, waren sie rein elementare Wesen: Wind, Feuer, Erde, Wasser und Psyche. Die ersten vier Arten waren schon verheerend, doch am schlimmsten waren die, die dem letzten Element angehörten. Ein Angriff auf psychischer Ebene, der nicht nur den Verstand, sondern seltsamerweise auch alles andere vernichten konnte. Straßen, Gebäude, Pflanzen, Tiere.

Warum Geistdrachen nicht nur den Verstand, sondern auch alles andere beeinflussen konnten, war ihm ein Rätsel, und er würde den Teufel tun und einen Drachen danach fragen. Drachen waren selten in Plauderlaune, es sei denn, sie bezweckten damit etwas Bestimmtes. Man konnte sie nicht für Informationen bezahlen. Denn käuflich waren sie nicht. Nein, das hieß leider auch nicht, dass sie ehrenhaft wären. Aber clever. Höchst intelligent, verschlagen, arrogant und vor allem diebisch.

Ködere einen Drachen mit etwas Teurem, Funkelnden und er mochte dir heuchlerisches Entgegenkommen vorgaukeln. Die gewünschten Informationen bekam man häppchenweise, aber nie so viel, als das man damit etwas anfangen könnte. Der mögliche Anreiz jedoch, ein Diamant zum Beispiel, verschwand alsbald aus dem Tresor oder wo auch immer man diesen hingelegt hatte, um vor dem Drachen sicher zu sein.

Allerdings hatte man in ihnen starke Verbündete, wenn man sich erst einmal ihren Respekt verdient hatte. Nur war das leider nicht so einfach, wie man es gern hätte. Bisher wusste Jo nur von einem einzigen dieser Bündnisse. Und das war vor mehreren Jahrhunderten gewesen. Jo war damals kaum aus den Babyschuhen herausgewachsen. Aber er erinnerte sich sehr genau daran. Nicht nur, weil die Drachen den Pakt mit seinem Vater geschlossen hatten, sondern weil sie ihm dieses Bündnis verwehrten.

Er hatte sich den nötigen Respekt nicht verdient, obwohl er nach denselben Prinzipien handelte wie sein Vater. Bis zum heutigen Tag. Mit ein paar wenigen modernen Abwandlungen. Soviel gestand er sich zu, um in dieser modernden, technischen, sich viel schneller drehenden Welt Schritt zu halten.

Vielleicht, weil ein Teil des Paktes ihn und sein Leben einschloss.

Sein Vater hatte sich für seinen Sohn die Unsterblichkeit gewünscht. Jo hatte die bekommen, auch wenn er gar keinen Wert darauf legte. Nicht mehr.

Er alterte nicht, aber er sah jeden seiner Freunde und Verwandten altern und sterben. Seine Frauen, sogar seine Kinder. Siebzehn hatte er im Laufe seines langen Lebens gehabt – recht wenige, wenn man es recht bedachte. Immerhin war er knapp 900 Jahre alt. Unzählige Enkel und Urenkel waren ihnen gefolgt. Sie alle waren gestorben und die Nachfahren, die noch lebten, hatte er mit Absicht längst aus den Augen verloren. Wie sollte er ihnen auch erklären, dass er ihr Urururur-sonst-was-ahn war? Außerdem wollte er nicht an die Verluste erinnert werden.

Es war einfacher, als eigenbrötlerischer Detektiv verschrien zu sein, als immer wieder dieselben schmerzhaften Verluste erleben müssen. Er für seinen Teil hatte genug von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Mehr als genug.

Wenn er es könnte, würde er den Pakt seines Vaters rückgängig machen. Die Betonung lag auf könnte!

Doch er konnte nicht. Er würde irgendwann die Welt untergehen sehen und würde dennoch weiterexistieren. Bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus.

Was für ein beschissener Wunsch seines Vaters. Hätte der sich nicht unendliche Reichtümer und fruchtbares Land wünschen können?

Stattdessen hatte er ihm diesen… diesen Fluch aufgebürdet!

Nur gut, dass die letzte Dame, die von ihm schwanger geworden war, ebenso wenig über die plötzliche Mutterschaft erfreut gewesen war wie er und die Schwangerschaft abgebrochen hatte. Vielleicht war er deswegen in letzter Zeit gereizter als üblich. Nicht, weil sie das Kind hatte abtreiben lassen, sondern weil er geglaubt hatte, sich endlich den Freuden des Sex hingeben zu können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, nachdem er den entscheidenden Schritt gewagt und sich einer Vasektomie unterzogen hatte.

Er hatte Ärzte seine wichtigsten, persönlichsten Teile sehen, sich die verdammten Samenstränge durchschneiden lassen, mehrmals in einen Becher wichsen müssen, um bestätigt zu bekommen, dass keine kleinen Jos mehr darin herumschwammen und diese verdammten Dinger waren wieder zusammengewachsen!

Eigentlich hätte er es wissen sollen.

Aber nein, er hatte nicht nachgedacht.

Vermutlich könnte man ihm das Herz heraus schneiden und auch das würde wieder nachwachsen. So wie seine Zähne sich erneuerten, als wäre er ein Hai. Oder seine Haut keine Narben aufwies. Nicht mal die, die er sich als junger Bursche zugezogen hatte.

Was würde passieren, wenn er den Kopf verlor? Wortwörtlich statt nur bildlich gesprochen? Würde er ohne Kopf herumlaufen? Würde der Körper einen neuen Kopf bilden oder der Kopf einen neuen Körper. Gäbe es dann zwei von ihm? Wer wäre dann der echte?

Er wollte lieber nicht darüber nachdenken. Die Vorstellung war ihm zu gruselig.

Sein Aussehen hatte sich seit – Gott, seit Ewigkeiten – nicht geändert. Er sah aus wie Mitte, Ende dreißig, dabei hatte er mit 22 aufgehört zu altern. Die Zeiten damals waren hart gewesen. Und auch wenn seine verkrüppelte rechte Hand wieder vollkommen funktionstüchtig war, seine Augen schärfer sahen als ein Adler und er ohne Schmerzen laufen konnte – was vor diesem verflixten Wunsch kaum vorgekommen war – so sah er doch immer noch aus wie damals. Gut, er hatte inzwischen kürzere und vor allem gepflegte Haare. Seinen Bart sorgfältig gestutzt. Vor nahezu 900 Jahren war er durch seine überdurchschnittliche Größe von 1,70m aufgefallen und hätte an jeder Hand fünf Geliebte haben können, sich stattdessen für eine einzige Frau entschieden. Jetzt war er für einen Mann recht klein. Zu klein, wie er fand.

Trotzdem könnte er, wenn er wollte, immer noch an jeder Hand fünf Geliebte haben. Sein Konto war nämlich um einiges größer als er, und viele der Frauen, die sich für ihn interessierten, sahen überwiegend seine Finanzen. Damit konnte er leben.

Meistens.

Schließlich brauchte er keine Beziehung. Ab und an ein wenig Spaß, auch wenn er Kondome abscheulich fand. Aber er wollte sich nicht auf die Aussage, dass die Frauen verhüteten, verlassen.

 

Seufzend lehnte Jo sich in seinem weichen, gepolsterten Chefsessel zurück und schloss müde die Augen.

Es war erst Mittag.

Trotzdem würde er sich jetzt liebend gern für ein zwei Stündchen zurückziehen und ein Nickerchen machen. Neue Kunden erwartete er heute keine mehr, dafür einen Klienten, der ihn regelmäßig besuchte. Dass der lediglich jemanden zum Schwatzen brauchte oder um sich die Zeit zu vertreiben, die ihm als Rentner anscheinend zur Genüge zur Verfügung stand, war für Johannes ein vernünftigerer Gedanke als ständig Walter Hermans angeblichen Geistererscheinungen nachzugehen, die sich jedes Mal als Humbug herausstellten.

Na gut, fast jedes Mal.

Einmal waren die Geräusche auf dessen Dachboden tatsächlich echt gewesen. Wenn auch nicht verursacht von Geistern, sondern von Mardern. Niedlichen, kleinen Pelzungeheuern, die es schafften an der Wand senkrecht nach oben zu laufen und unter dem Dachsturz des alten Hauses zu verschwinden.

Abermals seufzte Johannes und überlegte, ob er es sich gestatten konnte einen auf abgehalfterten Detektiv zu machen, der sich schon mittags ein Glas Whisky hinter die Binde kippte. Zusammen mit der obligatorischen Zigarre oder einer Zigarette. Das Laster des Rauchens hatte er sich vor etlichen Jahrzehnten angewöhnt, wobei er von der anfänglichen Pfeife bald auf die inzwischen viel gewöhnlicheren Glimmstängel umgestiegen war. Ha, er konnte seine Lunge teeren so lange er wollte. Selbst mit einem Achtel seiner Lungenflügel – was nie vorkäme – würde er länger leben als jeder Gesundheitsapostel. Er wurde ja nicht einmal betrunken! Kein Wunder, dass er griesgrämig geworden war.

Alles was Spaß machte, hatte keinen Sinn, solange man Einschränkungen unterlegen war. Oder einem schlechten Gewissen, das sich nach all den Jahrhunderten allmählich tot gebrüllt haben könnte.

Oder zumindest leiser geworden sein.

„Oh verfluchte Scheiße! So ein elender Dreckmist!“, fluchte es hinter der leicht angelehnten Tür seines Büros, die in das kleinere Büro führte. In dem seine Enkeltochter saß. Und die mit Flüchen ebenso heftig um sich werfen konnte wie er selbst.

Soviel im Übrigen zum Vermeiden von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Nicht, dass Yasmin seine leibliche Enkelin war. Aber als er vor – er musste überlegen – beinah 54 Jahren das kleine rosa Bündel mit dem zerknautschten Gesicht und den flauschigen Haaren vor seiner Tür gefunden hatte, konnte er es nicht einfach liegen lassen. Das Bündel hatte den Namen Claire bekommen und war als seine Tochter aufgewachsen. Auch wenn sie es im biologischen Sinne nicht sein konnte. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte er fast drei Jahre enthaltsam gelebt. Es sei denn, sein Samen hatte sich während der Nacht selbstständig gemacht und war zu jemandem ins Bett geflogen!

Blödsinn, natürlich hatte die Frau – wer auch immer sie gewesen sein mochte – das gewusst.

Aber Jo hatte schon damals Geld besessen und möglicherweise hatte sie ihn gut genug gekannt, um zu wissen, dass er nach außen ein eigensinniger, arroganter Arsch sein mochte, aber im Grunde seines Herzens ein weicher Kerl war. Einer, der kein Baby vor der Tür liegen ließ oder es wieder abgab. Oft hatte er sich gefragt, ob ihm eine schwangere Frau aufgefallen war oder ob es doch nur reiner Zufall gewesen war, dass das Baby vor seiner Tür gelegen hatte.

Wie auch immer.

Jo hatte sich nie die Mühe gemacht, Claires leibliche Eltern aufzuspüren. Auch wenn Claire ihm das verübelte. Yasmin hingegen, nun, sie war ganz anders als ihre Mutter. Sie geriet – so unglaublich das auch war – charaktermäßig nach ihm. Ein wenig machte es ihn stolz; ein wenig fürchtete er sich jedoch davor, dass sie sich damit ihre Zukunft ruinierte.

Sie war bereits 29 und hatte weder Mann noch Kinder.

Ja, ja… die Zeiten, dass Frauen möglichst jung heirateten und eine Familie gründeten, waren längst vorbei, aber trotzdem!

Unwirsch wischte er seine Gedanken mit der Hand beiseite, hievte sich aus dem viel zu bequemen Bürostuhl und schlurfte zu der leicht angelehnten Tür, hinter der es noch immer polterte und fluchte. Vorsichtig streckte er den Kopf hinein und sofort wieder heraus, ehe er so dumm wäre und in schallendes Gelächter ausbräche.

Sie hörte ihn, obwohl er sich verflixt viel Mühe gab nicht zu wiehern!

Er keuchte höchstens.

Ein bisschen.

Naja, hörbar.

„Steh da nicht rum und amüsier dich. Hilf mir, Jo!“ Er würde ja gern. Aber er wusste nicht wie.

Er wusste ja nicht mal, wie sie das angestellt hatte.

Außerdem würde er vor lauter Tränen, die vom Lachen kamen, gar nichts sehen können. Diskret räuspernd trat er ein und… wieherte. Er konnte nichts dagegen tun.

„Tut mir leid.“, quetschte er zwischen den glucksenden Lippen hervor. Yasmin schnaubte. „Spar dir dein Mitleid. Hilf mir!“ Jo hob die Achseln in die Höhe und streckte die Hände fragend von sich, was sie gar nicht sehen konnte. „Wie denn?“ Seine hübsche Enkeltochter fluchte mit Worten, die er noch nie gehört hatte und schlug mit den flachen Händen auf den Drucker, über den sie sich beugte.

Nicht weil sie diesen anbetete, selbst wenn es so aussah.

„Schere!“, wies sie ihn an, was Jo die Augen weit aufreißen ließ. „Bist du dir sicher?“ Sie konnte doch unmöglich ihre lange, lockige, zurzeit flammend rote Haarpracht verunstalten wollen! „Hast du eine bessere Idee?“ Im Moment nicht. Aber in ein paar Minuten vielleicht.

Oder in einer Stunde.

„Hast du versucht, es heraus zu ziehen?“ Er sah es zwar nicht, aber er spürte instinktiv, wie sie die Augen verdrehte. „Nein.“, antworte sie sarkastisch, „Das erste was mir einfällt, ist die verdammte Schere. Was denkst du denn?“ Dabei deutete sie auf mehrere Seiten Papier die auf dem Boden lagen und die sie offensichtlich aus dem Drucker hatte befreien können – im Gegensatz zu ihren wunderschönen Haaren.

Nach einer geschlagenen halben Stunde, in der Jo ebenfalls versucht hatte sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien, ohne dabei die Schere benutzen zu müssen und Yasmin ihm mehrmals vorwarf, sie skalpieren zu wollen, gab er auf. „Ich rufe den Techniker.“ Yasmin holte zischend Luft. „Untersteh dich. Wir wissen beide, dass der einzige Techniker, der schnell genug hier ist, falls sich überhaupt einer blicken lässt, Colby sein wird. Dann renne ich lieber mit Glatze rum.“ Ganz so dramatisch würde es nicht sein. Schulterlang, ja, aber keine Glatze.

„Was ist an Colby auszusetzen?“ Sie drehte ihren Kopf, soweit es ihr möglich war.

Wenn Blicke töten könnten, wäre er von seinem Fluch befreit.

„Ich stecke mit meinen Haaren in einem beschissenen Drucker fest! Meinst du, das behält Colby für sich? Morgen weiß es die ganze Stadt und übermorgen steht es in der Zeitung! Mit Farbfoto!“ Abwehrend hob Jo die Hände. „Das Foto kann ich verhindern…“

„Gib mir einfach die verfluchte Schere!“ Seufzend ging er um den Schreibtisch herum und griff nach der riesigen Papierschere, zögerte aber, als sie die Hand danach ausstreckte. „Bist du dir sicher?“ Sie atmete ganz langsam aus. „Man, so dramatisch ist es auch wieder nicht. Die wachsen nach, ok?“ Sie hatte Recht. Aber es würde Jahre dauern, bis sie wieder diese Länge erreichten.

Jahre, die sie näher an sein äußerliches Alter brächten und fremden Leuten suggerieren würden, dass sie ein Paar wären. Selbst wenn die meisten es besser wussten.

Während er mit einer kläglichen Mine – bei der man meinen könnte, es ginge um sein Haar – das ihre abschnitt, zog er einen folgenschweren Entschluss. Einen, den er Yasmin schonend würde beibringen müssen.

Nachdem sie beim Friseur gewesen war.

Und einen Kaffee getrunken hatte.

Am besten mit einem Stück Blaubeertorte, die sie so sehr mochte.

Vielleicht auch erst am Freitag, an dem sie das kommende Wochenende hätte, um sich abzureagieren und er seinen Plan vorher sowohl gründlich überlegt als auch hieb- und stichfest niedergeschrieben hatte.

Also blieben ihm noch zwei Tage.

Niedergeschlagen schaute Jo auf die Schere in seiner Hand und hinauf in die wunderschönen, grünen Augen seiner Enkelin, die ganze zwei Zentimeter größer war als er. Sofern sie keine Absatzschuhe trug, was sie im Büro jedoch recht häufig tat. „Du bist wunderschön, weißt du das?“ Sie lächelte sanft, wobei sich auf ihren Wangen kleine Grübchen bildeten. „Das sagst du nur, weil du mein Großvater bist.“ Vehement schüttelte Jo den Kopf. „Nein, das sage ich, weil es der Wahrheit entspricht.“ Anschmiegsam warf sie sich in seine ausgestreckten Arme. „Ach Jo. Wie kommt es dann, dass mich keiner will?“

Zärtlich fuhr er über ihr ein wenig ramponiertes Haar. „Oh, sie wollen dich schon. Aber du weist alle zurück. Alle nach diesem einen besagten du-weißt-schon-wen, dessen Namen nicht mehr gesagt werden darf. Er war ein Dummkopf. Ein riesiger, vertrottelter Dummkopf, der dich überhaupt nicht verdient hat. Es tut mir weh zu sehen, wie du immer noch wegen ihm leidest.“ Sie löste sich langsam aus seiner Umarmung und zwinkerte ihm aufmunternd zu. „Ach was, ich leide nicht wegen ihm. Er ist mir schnurzpiepegal.“

Jo wusste, was sie tat.

Er war schließlich ein Paradebeispiel dafür.

„Du hast Beziehungsängste. Wegen ihm. Vielleicht auch wegen mir. Habe ich einen schlechten Einfluss auf dich?“ Das war seine allergrößte Angst. Sofort schüttelte sie den Kopf, so dass ihre Lockenpracht wild durcheinanderwirbelte und der fehlende Teil auf der linken Seite gar nicht mehr so sehr ins Auge stach.

„Quatsch. Das hat nichts mit dir zu tun. Es ist meine Entscheidung.“ Das war es immer. Man entschied Dinge für sich selbst, die man in einigen Jahren bitter bereuen konnte.

„Im Gegensatz zu mir, meine süße Yasmin, werden mich die Jahre meine Entscheidungen nicht bereuen lassen. Ich kann immer wieder von vorn anfangen. Oder besser gesagt, ich muss. Du hingegen wirst alt werden. Und du wirst sterben. Dann werde auch ich wieder allein sein.“ Als er ihre betroffene Mine sah, hätte Jo seine Worte gern zurückgenommen. Aber das war unmöglich. „Siehst du, das war eine Entscheidung, die ich bereuen, aber nicht ändern kann. Ich meinte nicht, dass du verpflichtet bist mir irgendwelche Nachkommen zu schenken. Aber ich hätte gern einen Teil von dir bei mir, wenn du nicht mehr da bist. Egoistisch, nicht wahr?“

Dabei hatte er seine eigenen Nachkommen völlig aus den Augen verloren und sich geschworen, diesen verflixten Familienbanden auszuweichen. Weil es zu sehr wehtat, sie einen nach dem anderen sterben zu sehen.

Schon jetzt wusste er, dass er mit Claires Tod ebenfalls ein Stückchen sterben würde. Und später bei Yasmins.

So, wie er früher mit jedem seiner Kinder, jedem seiner Enkelkinder ein Stückchen gestorben war.

Ein winziger Teil von ihm, den niemand ihm ersetzen konnte.

Die Erinnerungen lebten zwar in ihm weiter, aber sie verblassten. Schon lange konnte er sich nicht mehr an die Gesichter seiner Kinder erinnern. Geschweige denn an ihre Stimmen oder an Geburtsdaten. Bei einigen war er sich nicht einmal mehr bei den Namen sicher.

Den korrekten Namen.

Es gab inzwischen so viele Varianten davon, dass er nicht mehr überzeugt war, sich an den richtigen zu erinnern. Selbst seine ursprüngliche Sprache hatte er vergessen. Einiges konnte er noch wiedergeben. Aber würde er in die Zeit zurückversetzt werden, er könnte sich kaum verständlich machen. Manchmal fielen ihm Sätze ein. Kamen ihm einfach in den Sinn, ohne dass er sie verstand – oder nur zum Teil

Wahrscheinlich wäre es besser, wenn Yasmin keine Kinder hinterließe. Für ihn. Um seiner selbst willen.

Und um nicht irgendwann den Verstand zu verlieren.

„Nein, ich finde das kein bisschen egoistisch. Ich kann es dir nachempfinden. Es muss schwer sein, diejenigen gehen zu sehen, die man liebt und denen man, so sehr man es auch möchte, nicht folgen kann. Manchmal beneide ich dich um deine Unsterblichkeit, Jo. Aber bisweilen bedauere ich auch dafür.“ Jo blinzelte. Konnte Yasmin mit ihren jungen Jahren wirklich schon verstehen, wie einsam die Unendlichkeit war?

Es sah ganz danach aus. Auch wenn sie keine annähernde Vorstellung von der gänzlichen Tragweite besaß.

Er beschloss, das Thema zu wechseln.

„Wie wär`s, wenn du dir den Nachmittag frei nimmst? Um das Telefon kann ich mich kümmern. Karl, René und die zwei Neuen sind im Außendienst. Ich erwarte sie nicht vor morgen. Und mit Walter komme ich allein klar. Vielleicht kannst du später René anrufen? Ich habe dich ein wenig… äh… verunstaltet.“ Yasmin lachte.

Jo liebte ihr Lachen. Hell und klar. Nicht gekünstelt, einfach nur befreiend. Wie ein frischer Wind, der einem im heißen Sommer die Haut fächelte.

„Das warst nicht du. Das war ich mit meiner Unfähigkeit einen Drucker zu bedienen. Mach dir keine Gedanken. Ich werde es überstehen. Ich gehe später zu René und lass mich von ihr verwöhnen. Wenn sie Zeit hat. Und sich nicht halb tot lacht über mein Missgeschick.“ Jo nickte zufrieden.

René war seine langjährige Angestellte. Doch vorher hatte sie als Friseuse gearbeitet. Er wusste, dass sie diesen Beruf nur ungern aufgegeben hatte. Aber das ständige Stehen hatte ihrem Rücken nicht gut getan, und die Bezahlung war wohl eher unterer Durchschnitt gewesen.

Glück für ihn.

Denn ihr Spürsinn als privater Ermittler war gegen kein Gold der Welt aufzuwiegen. Ebenso wie Karls Fähigkeit, in jede nur erdenkliche Rolle zu schlüpfen. Der Kerl würde sogar als Hebamme durchgehen, wenn er es sich vornahm. Eine wandelnde Fata Morgana, die nicht war, was sie vorgab zu sein und außerdem Jos bester Undercoverermittler. Die zwei Neuen mussten sich noch bewähren. Aber schon jetzt war klar, dass zumindest Jeremy sein Geld wert war. Ein knallharter Kerl mit der Statur eines Boxers, dessen Gesicht jedem, der es verdiente, suggerierte, ihm bloß nicht in die Quere zu kommen. Ein hervorragender Bodyguard für verängstigte Klientinnen, die mit ihrem ehebrecherischen Gatten noch ein Hühnchen zu rupfen hatten, aber zu viel Angst hatten, das ohne die Hilfe von Jos Detektei zu tun.

Und dann war da noch Gene.

Ein Troll.

Ein mürrischer, launischer, kleiner, ungehobelter, unausstehlicher, verdrießlicher Mann, der keinen mochte und dem es am Arsch vorbei ging, was andere von ihm dachten. Loyal dem gegenüber, der ihn bezahlte und im Moment war das Jo. Wenn es um Geldangelegenheiten ging, egal ob um Unterschlagung oder sonstige Ungereimtheite, hatte Gene den richtigen Riecher. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Doch noch konnte Jo sich nicht entscheiden, ob er Gene behalten sollte. So gut der seinen Job auch machte, ihm passte nicht, wie der Troll sich verhielt.

Besonders den Kunden gegenüber könnte er ein wenig freundlicher sein

 Aber sage das mal jemand einem Troll! Ebenso gut könnte er der Elbe empfehlen bergauf zu fließen.

„Wie war eigentlich deine Unterredung mit Mary Horn?“ Jo verdrehte die Augen. „Hast du die nicht mitbekommen?“ Seine Enkelin deutete auf das Diktiergerät und die Kopfhörer. Mit einem leichten Grinsen im Gesicht erzählte er ihr von Frau Horns Version eines Drachenangriffs, wobei die sich nicht weniger erhoffte, als einen von denen verklagen und Geld aus dessen Tasche ziehen zu können.

Jedes Mal betraf es eine andere Spezies.

Nur Menschen waren noch keine dabei gewesen.

Es war innerhalb eines Jahres die achte mögliche Version eines Überfalls, der lediglich ihren Fantasien entsprang. Einen echten hätte sie nämlich bei der Polizei gemeldet. Er runzelte die Stirn, als ihn die Frage überkam, ob die Frau ihn möglicherweise für naiv oder gar dumm hielt oder in Betracht zog, das nächste Mal ihn als möglichen Täter anzuschwärzen.

„Und woher weißt du, dass es sich nicht wirklich so zugetragen hat? Nicht, dass ich ihr ein Wort abkaufen würde, aber trotzdem… es besteht die minimale Möglichkeit, dass sie tatsächlich von jemanden überfallen worden ist.“ Da mochte Yasmin Recht haben. Doch diese Möglichkeit tendierte in seinen Augen und von seinen Instinkten her gegen Null. Und auf seine Instinkte war Verlass. Er tendierte eher zu häuslicher Gewalt, obwohl Frau Horn vorgab Witwe zu sein. Das musste nichts heißen. Als Witwe konnte man sich dennoch einen Liebhaber halten.

Trotzdem erzählte er Yasmin, was er über Drachen wusste. Schließlich wusste seine Enkelin, wem er seine Unsterblichkeit zu verdanken hatte. Nur waren ihre Kenntnisse in Hinsicht auf Drachen sehr beschränkt. Sicher, sie lebten unter ihnen, wie so viele andere Arten auch. Aber kaum eine andere war derart leidenschaftslos tödlich. Mit sehr viel Glück begegneten sie einem nur als Menschen. Oder, was in den letzten Jahrhunderten sehr, sehr selten der Fall gewesen war, als für Maler oder Gaffer posierende, schillernde Wesen in ihrer ursprünglichen Form. Mit Schuppen, Klauen, Zähnen und intelligenten Augen, in denen man keine Gefühle erkennen konnte. Sofern man darin jedoch auch nur die Spur eines Gefühles erahnte, sollte man schleunigst das Weite suchen. Denn meist sah man darin nichts Gutes. Drachen konnten sehr geduldig sein. Manchmal jedoch auch furchtbar aufbrausend.

Je nach Wetterlage, Temperatur, Sonnenstand, Luftfeuchtigkeit oder weiß der Geier was!

„Ok, sehr aufschlussreich. Und woher erkennt man, ob man einen Menschen vor sich hat oder einen Drachen?“ Jo zuckte reflexartig mit den Schultern. „Wenn man es nicht weiß? Gar nicht.“

So gern er Yasmin auch etwas anderes gesagt hätte, es entsprach nun einmal der Wahrheit. „Gut, ich werd`s mir merken. Ich bin dann mal weg. Heute Abend… ach was, ich weiß gar nicht, wann ich da bin. Falls ich bis um sieben nicht zuhause bin, kannst du davon ausgehen, dass ich bei ihr esse, ok? Hab dich lieb, bis später.“

Sie küsste ihn auf die Wange, schnappte sich ihre Handtasche und eilte aus ihrem Büro, was zwar direkt neben seinem lag und zur Detektei gehörte, aber gegensätzlicher kaum sein konnte.

„Ich dich auch, bis heute Abend. Komm nicht so spät… ich meine, amüsier dich gut.“

Sie lächelte, winkte und verschwand durch die Eingangstür, deren vergilbtes Milchglas den Schriftzug der Detektei durchscheinen ließ. Bei Gelegenheit musste er den Leuten von der Putzfirma mitteilen, dass sie sich darum kümmern sollten. Milchglas sollte nicht aussehen wie Bananenmilchglas.

 

Lustlos plumpste er auf seinen Stuhl und blätterte durch ein paar Akten, während er den Blick durch das Büro schweifen ließ. Zweifellos würde Yasmin etwas daran ändern, wenn er ihr die Führung überließe. Ihr Büro war hell und luftig eingerichtet. Mit weißen Wänden, einer mittelgroßen Pflanze, die für ihn hauptsächlich grün war, aber keinen Namen besaß und einem bunten, freundlichen Bild an der Wand.

Ihr Schreibtisch aus einer hellen Holznachbildung war makellos aufgeräumt und passte in die locker, fröhliche Arbeitsumgebung, die sie sich eingerichtet hatte.

Hätte er ihrem Renovierungswunsch nicht nachgegeben, hätte er eine andere Sekretärin und seine Enkelin würde täglich Überstunden in einem der vielen Großraumbüros schieben, wobei sie nur die Hälfte dessen verdiente, was er ihr zahlte.

Würde sie diesen Teil des Büros, in dem sein Herzblut steckte, ebenso an ihre Bedürfnisse anpassen oder würde sie alles so belassen wie es war? Der Sentimentalität wegen. Oder als Erinnerung an ihn. Er hoffte es. Aber er kannte auch Yasmins Vorstellungen.

Seit fünf Jahren – also so lang wie sie für ihn arbeitete –drängte sie darauf, sein Büro professioneller herrichten zu lassen. Die Klienten denken doch, sie sind in einem alten Humphrey Bogart Schinken gelandet. Dir fehlen nur noch der Trenchcoat und der dazugehörige Hut! Sie übertrieb.

Maßlos!

Zugegeben, das Parkett war etwas abgenutzt und zeigte bereits einige graue Stellen. Neben den dunklen Flecken. Sein Schreibtisch war eines dieser alten, klobigen, rustikalen Werke, die selbst einem Panzer standhielten. Der Deckenventilator war funktionstüchtig, diente aber lediglich als Dekoration. Der dreifüßige Kleiderständer schwankte ein wenig. Wenn man jedoch nicht genau hinsah, fiel das kaum auf. Die Wände waren vergilbt und scheckig, was an seinem Hang zum Rauchen lag, wenn er angestrengt nach einer Lösung suchte.

Was oft vorkam. Und nicht weniger oft etwas länger dauerte.

Der Aktenschrank sah aus wie ein gewöhnlicher Kleiderschrank - vermutlich weil es früher mal einer gewesen war. Meine Güte, die Leute mussten denken, er wäre verarmt! Yasmin hatte Recht. Was die Einrichtung betraf.

Aber er sah viel besser aus als Humphrey Bogart!

R. R. Alval

Fantasie für ihr Kopfkino

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