Leard stand immer noch neben sich. Wie tief war er gesunken, dass er ohne den geringsten Widerwillen einen Menschen heilte? Gefährtin von Adam hin oder her. Er hatte gehandelt ohne nachzudenken. Hatten Gefährtinnen einen anderen Status, der ihm das Zögern nahm?
Hm, das konnte möglich sein.
Unmöglich war jedoch, dass er ein paar Tage danach immer noch darüber grübelte.
Mit donnernden Schritten ging er über den Altmarkt, direkt zur Santa-Marien-Kirche. Nicht, dass das Gotteshaus ihn ehrfürchtig erstarren ließ - es war die Architektur der Kirche, die sein Herz weitete. Sie erinnerte ihn an eine Zeit, die längst vergessen war.
An die er sich nicht immer gern erinnerte. Besonders in Anbetracht einer Kirche.
Sie waren in seiner Jugend nicht halb so prunkvoll gewesen, aber er erinnerte sich sehr deutlich, wie gut sie brannten. An die Schreie der Menschen, die darin eingeschlossen waren. Christen wurden zu seiner Zeit als Bedrohung der religiösen und sozialen Ordnung angesehen. Außerdem bezichtigte man sie der Kollaboration mit den Römern. Also verfolgte man sie. Und nicht nur das. So ließ Athanarich Christen mitsamt ihren Häusern verbrennen; ein anderer, Wingurich, zündete volle Kirchen an.
Damals war Leard noch ein Vampir gewesen.
Doch die Grausamkeiten der Menschen hatten ihn nicht unberührt gelassen. Jedem das Seine, hm?
Schnell schüttelte Leard die uralten Erinnerungen ab. Er war im Hier und Jetzt.
Als großzügiger Spender, der mit seinem Geld einen Großteil der Restaurierung unterhielt, war er jederzeit ein willkommener Gast. Auch wenn er von diesem Angebot nur selten Gebrauch machte.
Um seinen Glauben zu praktizieren, brauchte er keine Gebäude. Sein Gott war stets bei ihm.
Weshalb ihn sein Weg diesmal zu der kleinen Kirche brachte, die alte Erinnerungen wachrief, war ihm unklar. Zumal er für einen Besuch nicht einmal passend gekleidet war. Schwarze Lederhosen, schwere Stiefel, ein weißes Hemd und eine kurze Lederjacke, die an einen ungestümen Biker erinnerten, waren sicher keine geeignete Kirchgängerkleidung. Ihn kümmerte das nicht. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Vor zwei Jahren? Damals hatte er sein Haar noch dunkel getragen; mitsamt Schnauzbart. Stirnrunzelnd bemerkte er das rege Treiben auf der alten ausgetretenen Straße des Marktes, der direkt durch die Altstadt führte.
Seltsam, dass so viele Menschen unterwegs waren. Um diese Uhrzeit.
Noch seltsamer war nur, dass mindestens genauso viele Vampire in den Eingang der Kirche drängten. Eine Abendmesse vielleicht?
Leard runzelte die Stirn noch stärker und folgte ihnen.
Einige drehten sich verwundert zu ihm um, rümpften die Nase und tuschelten leise. Dass er jedes Wort verstand, was die dummen Menschen sprachen, war denen nicht bewusst. Die Vampire hingegen grüßten ihn mit einem leichten, kaum merklichen Nicken. Sie wussten genau, mit wem sie es zu tun hatten.
Der Pfarrer lief durch die Gänge, sprach mit dem ein oder anderen, während irgendwo jemand sang. Oder besser vorsang. Das arme Geschöpf kam über die erste Strophe leider nicht hinaus und wurde von einer anderen abgelöst. Wo waren die Sängerinnen? Oben? Sicher in der zweiten Etage, direkt neben der Orgel, so dass keiner sie sehen, aber hervorragend hören konnte.
Der Pfarrer, der Leard erkannte, eilte mit strahlendem Gesicht auf ihn zu. „Herr Brun, welch Freude, Sie zu sehen. Wie gefällt ihnen der restaurierte Altarbereich? Selbst die Gebetskoppeln sind wie im Original hergestellt. Wir sind Ihnen wirklich zu großen Dank verpflichtet.“ Leard räusperte sich, da ihm das Gespräch vor derlei vielen Augen unangenehm war. „Keine Ursache. Sagen Sie, Pfarrer Angus, warum sind so viele Leute hier? Eine Abendmesse?“ Der Geistliche winkte ab. „Nein. Das Vorsingen für die Messen ist heute. Und natürlich für ein paar anstehende Hochzeiten. Normalerweise machen wir das nicht so formell, aber da wir über die Besetzung der Solistenstelle neu abstimmen…“ Er zuckte mit den Schultern. „“Ich glaube jedoch zu wissen, für wen man sich entscheiden wird. Bleiben Sie doch einfach noch ein Weilchen und lauschen Sie. Ich garantiere Ihnen, diese eine Stimme wird selbst Sie nicht mehr loslassen.“
Das verschwörerische Lächeln behagte Leard ganz und gar nicht. Außerdem hatte er immer wieder die Vermutung, dass der Pfarrer, der erst seit fünf Jahren hier arbeitete, mehr über ihn wusste, als ihm lieb war. Leard nickte und lehnte sich an eine der Säulen im letzten Gang.
Die zwei, die eben gesungen hatten, kamen herunter. Die eine mit einem sehr unglücklichen Gesicht. Warum, konnte wohl jeder ahnen.
Die nächste begann zu singen, nichts Besonderes, keine auffällige Stimme, kein spürbares Gefühl. Doch plötzlich verstummte jedes Gespräch in der Kirche. Leard schloss die Augen und lauschte. Die Stimme, die er hörte, traf ihn völlig unerwartet - mitten ins Herz. So wie ihm schien es auch den anderen Zuhörern zu gehen. Noch nie hatte er solch einen himmlischen, glasklaren Sopran gehört. Ganz entgegen seiner Natur trat ihm eine Träne der Rührung in die Augenwinkel, die er einfach fließen ließ.
Eine derart vollkommene Stimme verdiente es, dass man vor Freude und Ehrerbietung weinte.
Sogar ein Engel.
Wenn auch keiner im herkömmlichen Sinne.