-Kuss-Trilogie-
R. R. Alval
Der Kuss des Fae
Ein paar Sekunden und drei kleine Worte hatten ausgereicht, um meine schillernde Zukunft und mein Herz in einen unübersichtlichen, chaotischen Scherbenhaufen zu zerschmettern. Drei Worte. Die Worte, die folgten, wogen kaum weniger schwer, aber ich nahm sie kaum wahr. Drei Worte: Sie ist mein. Und damit war sie all das, was ich mir erhofft und erträumt hatte. Das Schneewittchen mit dem grellroten Lippenstift, das an Jason hing, klimperte nervös mit den Wimpern. Ich konnte ihr ansehen, wie unwohl sie sich fühlte. Wie unwohl Jason sich fühlte. Daran, dass ich aussehen musste wie ein blinzelnder Kugelfisch, wollte ich gar nicht erst denken. Jason hatte diese Frau gewählt. Nicht mich. Zehn Jahre gemeinsam unter einem Dach; in fünf davon hatten wir das Bett geteilt. Zuletzt gestern. Für mich war er der einzige gewesen. Ich für ihn ganz offensichtlich nicht. Kein Wunder, dass er unsere Partnerschaft nie besiegelt hatte. Der alles besiegelnde Biss war mir verwehrt geblieben. Kein für immer und ewig. Sie mögen mich sicher für naiv halten. Sie werden mir sagen wollen, dass kaum eine Partnerschaft für immer hält. Nun, für Partnerschaften zwischen Menschen mochte das durchaus zutreffen. Auf eine besiegelte zwischen einem Elf und einem magiekundigen Menschen nicht. Darauf war ich – seit ich denken konnte – vorbereitet worden. Ich entstammte einer langer Ahnenreihe Magiekundiger. Magiekundige Menschen wurden in vier Kategorien unterteilt. Menschen, die eigene Magie wirken konnten, wie die Meister der Untoten, bildeten den ersten Grad. Umgangssprachlich abwertend Zombiedresseure genannt, waren sie eine heiß ersehnte Möglichkeit, nach dem eigenen Tod den Hinterbliebenen Geld zukommen zu lassen. Dann gab es Magiekundige, die mit fremder Magie arbeiten konnten. Sie waren in der Lage, diese einzudämmen, aber in keinster Weise zu ändern. Der dritte Grad beinhaltete diejenigen, die mit fremder Magie so arbeiten konnten, als wäre es ihre eigene. Der vierte, und seltenste Grad bildete sich aus der Summe aller anderen Grade und wurde viel zu oft erst spät oder gar nicht erkannt. Der zweite und dritte Grad dienten häufig den Elfen; manche auch Dämonen. In einigen wenigen Familien, wie in meiner, war es Tradition, mindestens ein Kind dahingehend ausbilden zu lassen, einem Elf zu dienen. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, also hatte mich dieses Schicksal ereilt. Es gab sicher Schlimmeres. Doch dieses brachte immerhin viel Geld ein. Da ich zum dritten Grad gehörte, hatte ich seit meinem sechsten Lebensjahr darauf ausgerichtete Privatschulen besucht und war mit 14 Jahren zu Jason gezogen, um mit ihm zu arbeiten. Mit 18 hatte ich mein Abitur gemacht. Mit 19 hatte ich mich in Jason verliebt und begonnen, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
Ein Fehler, wie ich eingestehen musste.
Denn manchmal – sehr selten – kam es vor, dass ein Elf sich für einen anderen magiekundigen Menschen entschied. Das es ausgerechnet mir passieren musste, war ein Schlag ins Gesicht. Was zum Geier sollte ich jetzt tun? Ausziehen, keine Frage. Aber wohin? Zu meinen Eltern und ihnen diese Schande durch meine Anwesenheit vor Augen führen? Auf keinen Fall! Dafür war unsere Beziehung zu wenig… familiär. Seitdem ich sechs Jahre alt gewesen war, wohnte ich nicht mehr unter deren Dach. Und die wenigen Besuche bei ihnen hatten mich stets fühlen lassen, als wäre ich nur auf Zeit geduldet. Mich unter die normalen Menschen mischen, eine WG gründen, studieren? Eine Lehre beginnen? „Sag doch was, bitte!“ Jason ließ diese Bombe platzen und erwartete von mir, dass ich Worte fand? Herrje, ich wusste, dass es ein biologischer Reflex war, den- oder diejenige durch einen Biss – unter unsereins als bindender Kuss romantisiert – an sich zu binden. Doch das setzte schon fast voraus, dass Jason nicht nur mein Bett warm gehalten hatte. An der blassen, schwarzhaarigen Frau nahm ich keinerlei Magie war. Entweder war sie ein normaler Mensch oder ein magiekundiger Blindgänger, was ich mir jedoch keineswegs vorstellen konnte. Warum sollte sich Jason an einen normalen Menschen binden? Jemanden, der ihn weder unterstützen noch sich selbst schützen konnte? Schutz war in unserer Gesellschaft nämlich bitter nötig. „Glückwunsch.“, würgte ich hervor, „Ich packe meine Sachen.“
„Das musst du nicht. Lass dir Zeit.“ Ich winkte ab. Natürlich musste ich. Oder glaubte er, dass ich es scharf fand, wenn er mit seinem Schnuckelchen vor meinen Augen das verliebte Pärchen spielte? Zudem war sie das ganze Gegenteil von mir. Klein, schlank, mit lockigen, kaum schulterlangen Haaren und hellblauen Augen. Vermutlich gerade mal 18. Falls überhaupt. Ein wenig erinnerte sie mich an meine Mutter. Ich war eine wunderschöne, attraktive Frau. Soviel konnte ich mir eingestehen. Allerdings war ich auch eine große Frau mit sehr vielen Kurven. Und ein paar kleinen Polstern. Meine kastanienfarbenen Haare reichten mir bis zum Po. Lange Haare waren das Zeichen einer Frau, die einem Elf in allen Aspekten des Lebens diente und ebenbürtig war. Meine Haut war rein und porzellanfarben – auch wenn ich noch soviel Zeit in der Sonne verbrachte – und meine Augen beinah schwarz. Ohne weiter auf Jason einzugehen, lief ich in unser Schlafzimmer und begann, meine Koffer zu packen. Noch hatte ich keinen Plan, was ich tun sollte. In aller Eile packte ich nur das Notwendigste. Dann rief ich mir ein Taxi, ehe ich ins Bad verschwand. Dort wusch ich mir mehrmals mit kalten Wasser das Gesicht, um bloß nicht anzufangen zu heulen und flocht mir im Anschluss meine Haare. Mein Spiegelbild schien mich zu verhöhnen. Mit einem leisen Schnaufen gab ich ihm Recht. Kurzentschlossen zog ich den oberen Schubkasten des Spiegelschranks auf und griff zur Schere. Ich musste mehrmals schneiden und mit Sicherheit war es schief. Scheiß drauf! Ich hielt den Zopf fest und wickelte ein zweites Gummi um das abgeschnittene Ende. In dem Moment klingelte es auch schon an der Tür. Mein Taxi. Perfektes Timing! Ich lief mit dem Zopf in der Hand zurück ins Schlafzimmer, wobei ich Jasons entsetztes Einatmen vernahm. Mit dem Koffer lief ich wenig später an ihm vorbei, ließ den Zopf vor seinen Füßen fallen und lief zur Tür. „Missi, warte!“ Missi… ein bescheuerter Spitzname, der überhaupt nicht zu mir passte. Mein kalter Blick hielt ihn zurück. „Spar dir die Worte. Den Rest meiner Sachen hole ich mir in ein paar Tagen.“ Dafür musste ich ihn weder sehen noch das Haus betreten. Er wusste das ebenso gut wie ich. „War es das? Du gehst? Einfach so?“ Ich beantwortete seine Frage nicht. Die Tür hinter mir schließend, stieg ich ins Taxi und sagte diesem Teil meines Lebens Lebewohl.
Fürs erste logierte ich in einer kleinen Pension am anderen Ende der Stadt. Weit weg von Jason. Weit weg von meiner einstigen Zukunft, die jetzt Vergangenheit war. Das Gewicht meiner Haare fehlte mir. Und trotzdem fühlte es sich richtig an. Der Friseurbesuch, den ich kurz nach meinem Einchecken in der Pension erledigt hatte, hatte mich ein kleines Vermögen gekostet. Doch das war es mir wert gewesen. Jetzt musste ich nur noch den Anruf bei meinen Eltern hinter mich bringen und mir überlegen, wie es weitergehen sollte. Ums Finanzielle musste ich mir glücklicherweise vorerst keine Sorgen machen. Das war ein Vorteil, wenn man für einen Elfen auserwählt war: Es wurde vom Hohen Rat fürstlich belohnt. Obendrein genossen die Familienangehörigen des oder der Auserwählten einen entsprechenden Ruf. Denn magiekundige Menschen waren selten. Zudem wollte nicht jeder Magiekundige eine Bindung mit einem Elf eingehen. Oft waren es die Eltern, die strikt dagegen waren, weil die wenigsten Elfen so charmant und umgänglich waren wie Jason. Fakt war außerdem, dass die normalen Menschen um die Elfen und deren Einfluss in alle Belange der Menschheit Bescheid wussten. Sie himmelten sie an und fürchteten sich gleichzeitig vor ihnen. Das hielt viele jedoch nicht davon ab, mit einem Elf auf Tuchfühlung gehen zu wollen. Für uns magiekundige Menschen hatten die normalen recht wenig übrig. Immerhin waren sie der Meinung, dass es ihnen ebenso zustand, mit einem Elf zusammen zu sein, wie uns. Sie irrten sich.
Mehrmals tief ein- und wieder ausatmend, griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meiner Eltern. Wie erwartet, waren sie am Boden zerstört. Ihr Status Quo als hochangesehene, ehrenhafte Familie war schlagartig erloschen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie wegziehen würden, um der Schmach zu entgehen. „Du kommst erst einmal zu uns. Wir reden und dann sehen wir weiter.“ Als ob Reden etwas an Jasons Wahl ändern würde. Ich verdrehte die Augen, was meine Mutter am Telefon glücklicherweise nicht sehen konnte. „Ich bin in einer halben Stunde da. Plus minus ein paar Minuten. Hängt vom Verkehr ab.“ Und davon, wie schnell ein Taxi hier war. Seufzend legte ich das Telefon beiseite, ließ mich rücklings aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Die Tränen, die sich aus meinen Augen quetschen wollten, blinzelte ich hektisch beiseite. Ich würde nicht weinen. Nicht jetzt. Heute Abend vielleicht. Oder wenn mir meine Eltern genügend Dinge an den Kopf geworfen hatten. Dabei wussten sie sehr genau, dass niemals der Magiekundige die Wahl traf. Es lag immer am Elf. Wenn der nicht wollte, konnte sich der andere Part auf den Kopf stellen, mit den Ohren wackeln und einen Hula tanzen. Gleichzeitig! Trotzdem wäre es vergebens. Ich raffte mich auf und wählte erneut die Nummer des Taxiunternehmens.
32 Minuten nach dem Telefonat mit meiner Mutter, stand ich vor dem Haus meiner Eltern. Es fühlte sich für mich nicht wie ein Zuhause an. Vielleicht, weil ich mich kaum hier aufgehalten hatte. Denn Privatschulen bedeuteten auch, dass ich im Internat gewohnt hatte. Bis ich bei Jason eingezogen war. Einem Elf, der zwar aussah wie Mitte bis Ende 20, aber weit über 200 Jahre alt war. Zudem entsprach er jeglicher altbewährter Klischees bezüglich des Aussehens eines Elfen: blond, blauäugig, feingliedrig und nur wenige Zentimeter größer als ich. Meine Besuche bei meinen Eltern waren von ihnen zeitlich eng gesteckt und meist nur von kurzer Dauer gewesen. An Weihnachten oder anderen Feiertagen war ich immer im Internat geblieben, da sie zu dieser Zeit gern Reisen unternahmen.
Meine Mutter, die das Gehör eines Bluthundes besaß, öffnete die Tür, noch ehe ich klingeln konnte. Sie riss mich in ihre Arme und drückte mich derart fest, dass sie mir den Atem raubte. „Es tut mir so leid, Kleines.“ Sie ließ mich los, küsste meine Wange und strich mir über die Oberarme. „Na los, komm erstmal rein.“ Mein Vater, ein großer, hagerer Mann, der nur selten lächelte, beäugte mich, als wäre ich ein fremdes Wesen. „Hallo Dad.“
„Was hast du mit deinen Haaren angestellt?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Abgeschnitten.“
„Das sehe ich. Warum?“ Ich lieferte mir mit meinem Vater ein Blickduell, das von meiner Mutter unterbrochen wurde. „Dein Vater hat Recht. Warum hast du die Haare abgeschnitten? Du dienst einem Elf.“ Ein Blickduell mit meiner Mutter war sinnlos. Daher antwortete ich sofort. „Ich habe einem Elf gedient, Mom. Er hat sich für eine andere entschieden. Glaubst du, ich ehre ihn weiterhin, indem ich die Haare lang trage?“ Meine Mutter hob eine Augenbraue. Was sie mir jetzt sagen würde, würde mir bestimmt nicht gefallen. „Es gibt mehr als einen ungebundenen Elf, Sydney. Das weißt du so gut wie ich.“ Ich schüttelte energisch den Kopf. „In meinem Leben wird es keinen weiteren Elf geben, Mom.“ Erst jetzt wurde mir klar, dass ich es genauso meinte, wie ich es sagte. Ich würde mir einen netten Mann suchen, der alles andere war als ein Elf. Zur Not würde ich sogar einen Vampir – was absolut irrsinnig wäre – oder einen Gestaltwandler nehmen. Die standen in der Hierarchie auf fast gleicher Ebene wie die Elfen. Lediglich die elitären Wesen der Fae waren eine Klasse für sich. Sie standen über allem. „Darüber sprechen wir noch. Möchtest du einen Kakao?“ Ich verkniff es mir, die Augen zu verdrehen. „Nein, danke. Aber zu einem Kaffee sage ich nicht nein.“ Meine Mutter nickte. „Rainer, setzt du bitte Kaffee an? Ich spreche in der Zwischenzeit mit unserer Tochter.“ Hallo? Ich stand direkt neben ihr! „Setz dich, Sydney, und höre mir zu.“ Ich schluckte und folgte ihrer Aufforderung, obwohl mein Bauch schon jetzt ein leichtes Grummeln von sich gab. Nicht, weil ich Hunger hatte, sondern weil ich befürchtete, dass das, was sie sagen wollte, mir extrem auf den Magen schlagen würde. Nur wenige Minuten später musste ich feststellen, dass ich mit meiner Befürchtung Recht gehabt hatte. „Es geht nicht immer nur nach deinen Wünschen, Sydney. Du bist alt genug, um das zu verstehen. Wir haben mit dem Hohen Rat einen Vertrag. Der besagt, dass du dich an einen Elf bindest. Da Jason nicht der richtige war, wird es einen anderen geben.“
„Das steht so in dem Vertrag?“ Meine Mutter nickte. „Das wurde so ausgehandelt, ja.“
„Aber ihr habt das ohne mich entschieden.“ Sie winkte ab. „Dafür warst du nicht alt genug. Jetzt bist du es, um zu verstehen, dass wir den Vertrag nicht ohne erhebliche Einbußen auflösen können.“ Ich wurde hellhörig. „Welche Einbußen?“ Die nächsten Worte meiner Mutter hörte ich zwar, doch sie rauschten durch mich hindurch wie Säure. „Ihr habt mich verkauft?“
„In diesem Haus wird nicht geschrien, junge Dame!“ Nein. Aber in diesem Haus wurde die Tochter an den Hohen Rat verkauft. „Wie viel?“
„Eine Million pro angefangenem Lebensjahr. Wir müssten alles zurück zahlen, wenn einer von uns oder du den Vertrag für nichtig erklärst.“ Das wären 24 Millionen Euro. Ich war zwar flüssig, aber nicht so flüssig! Hoffentlich waren sie schlau gewesen und hatten das Geld gewinnbringend angelegt. „Wie viel habt ihr?“ Meine Mutter wackelte mit dem Kopf und schaute unschlüssig zu meinem Dad. „Etwa 120.000 Euro. Wir haben uns ein wenig verspekuliert.“ Schuldbewusst sah mein Vater aus dem Fenster, während meine Mutter sich etwas aufrechter hinsetzte. Als hätte sie jedes Recht dazu, mich zu tadeln und zu verschachern. „Du siehst, wir können nicht aus dem Vertrag. Zudem müssten wir hier wegziehen. Gerade jetzt! Was denkst du, was die Leute sagen, wenn wir plötzlich zugeben müssten, was passiert ist.“ Zustimmung heischend sah meine Mutter mich an. Ich wartete hingegen immer noch auf meinen Kaffee. Den würde ich mir wohl unterwegs besorgen müssen. Ganz langsam stand ich auf und hängte meine Handtasche um. Das war einfach zu viel, was ich zu verdauen hatte. Ich brauchte Abstand zu meinen Eltern. „Sydney, wir sind unsagbar stolz auf dich.“ Meine Mutter wischte sich eine Träne aus den Augen. „Ich weiß, Mom.“ Ich wusste es wirklich. Und obwohl es mir gegen den Strich ging, was sie getan hatten, so waren sie doch meine Eltern. Ich konnte sie nicht im Stich lassen. Nicht, wenn es um einen Vertrag mit dem Hohen Rat ging. Denn wenn sie nicht in der Lage waren, das Geld aufzubringen, war der Hohe Rat der Elfen alles andere als feinfühlig oder gnädig. Ich hörte, wie sich die Haustür öffnete und sah meine Eltern fragend an. Gleichzeitig hörte ich eine fröhlich klingende Stimme, während meine Eltern beide erst blass wurden und dann wie von der Tarantel gestochen aufsprangen. Ich hörte all das, was ich vermutlich nie hatte hören sollen, obwohl meine Mutter laut verkündete, dass Besuch da sei. Dass ich als Besuch ausgegeben wurde, erschien mir absurd. „Mom, Dad, Überraschung. Ich wollte es euch persönlich sagen. Ich habe mir einen Elf geangelt. Der Zauber hat wirklich geholfen. Er hat in mir eine Magiekundige gesehen und mich auserwählt. Kein langes Warten wie bei meiner großen Schwester.“ Freudestrahlend bog der Schneewittchenverschnitt von heute Morgen um die Ecke und wäre beinah in mich gelaufen. Sofort fiel ihr das Lächeln aus dem Gesicht, während ich eins und eins zusammenzählte. „Ihr habt sie auf Jason angesetzt?“
„Was? Nein. Das ist nicht wahr. Süße, sag bitte, dass dein Elf nicht Jason heißt.“
„Verdammt, du bist meine Schwester?“ Alle sprachen durcheinander. Die Antworten waren mir egal. Ich hatte eine Schwester. Eine, die offenbar das erste Mal seit Generationen keine Magie anwenden konnte. Und dank meiner Mutter – die zwar nur einen ersten Grad der Magiekundigen aufweisen konnte, aber dennoch eine Koryphäe auf dem Gebiet der Zaubertränke war – hatte das schneewittliche Persönchen sich Jason unter den Nagel gerissen. Perfekt. Einfach perfekt! „Wisst ihr eigentlich, was ihr angerichtet habt?“ Entsetzt atmete ich ein und wieder aus. Anscheinend hatte meine Mutter nicht halb so viel Ahnung von Elfen und den Menschen, die sie erwählten, wie von Magie. „Ich kann nicht glauben, wie dumm und verantwortungslos ihr seid.“
Binnen eines Wimpernschlags fasste ich einen Entschluss, der mir nicht sonderlich schwer fiel. Ich verließ die Küche. Verließ das Haus. Und verließ meine Familie, die nie eine richtige Familie für mich gewesen war. Sie hatten mich betrogen. Sie hatten mir eine Schwester verschwiegen und mir gleichzeitig meine Zukunft geraubt. Was nun kam, lag nicht mehr in meiner Verantwortung. „Sydney, warte, das kannst du nicht tun!“ Ich hörte das verzweifelte Kreischen dieser Person, die sich Mutter nannte und die flehentliche Bitte um Verzeihung von einer Schwester, die ich nie gekannt hatte. Ich drehte mich nicht mehr um.
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Seitdem ich bei Jason ausgezogen war, waren zwei Wochen vergangen. In der Zwischenzeit hatte ich meine Sachen bei ihm abgeholt und mit Hilfe von Magie zwischengelagert. Trotz meines ursprünglichen Vorhabens war ich persönlich bei ihm gewesen. Vielleicht war ich eine kleine Masochistin. Dumm von mir, dass ich ihn noch einmal hatte sehen wollen. Ich hatte mich eine Woche lang im Bett – im Zimmer dieser kleinen Pension – verkrochen. Hätte ich nicht angefangen streng zu riechen und mein Magen sich nicht laut grollend wie ein tollwütiger Hund gemeldet, würde ich wahrscheinlich immer noch im Bett liegen und mir die Augen aus dem Kopf heulen. In den zwei Wochen war mir außerdem schmerzlich bewusst geworden, dass ich die letzten 18 Jahre nach Strich und Faden verarscht worden war. Obwohl ich angenommen hatte, reichlich Geld zur Verfügung zu haben, um einen Neustart zu wagen, hatte ich erkennen müssen, dass dem nicht so war. Was mir zustand, war in einer Gesellschaft der Elfen nicht von Belang. Und wer meine Konten leergeräumt hatte, war fraglos deren Rat zu verdanken. Ich konnte keinerlei Ansprüche erheben. Wegen dem Vertrag meiner Eltern mit dem Hohen Rat waren mir diesbezüglich die Hände gebunden. Glück im Unglück war ich schon immer ein wenig paranoid gewesen und hatte genug Bargeld bei mir. Es würde noch eine Weile reichen. Doch wenn ich nicht schleunigst eine Arbeit fand, konnte ich eine eigene Wohnung knicken. Blöd, dass ich nicht sonderlich viel vorweisen konnte. Also hatte ich mich auf so ziemlich jede Stellenausschreibung beworben, die mir in die Hände gekommen war. Von der Aushilfskraft am Fließband bis hin zum Zimmermädchen. Bisher allerdings ohne Erfolg. Leicht antriebslos, da ich durch die Misserfolge ein wenig meines Enthusiasmus‘ verloren hatte, blätterte ich durch die neu erworbenen Zeitungen auf der Suche nach Stellenanzeigen. Die, die mir tauglich erschienen, kreiste ich mit einem Kuli ein, um die angegebenen Nummern im Anschluss anzurufen. Das Klingeln des Telefons erschreckte mich dermaßen, dass ich mir mit dem Kuli fast das Auge ausgestochen hätte. Die Nummer auf dem Display war die der Rezeption. Ein möglicher Arbeitgeber wäre natürlich sehr viel willkommener gewesen. „Ja, bitte?“, meldete ich mich und wurde sofort von der angenehmen Stimme der Pensionswirtin begrüßt. „Frau Tress, hier ist Besuch für Sie. Darf ich ihn hochschicken?“ Wah, Besuch? Für mich? „Hat er oder sie einen Namen gesagt?“
„Heron.“, antwortete sie mir. Sagte mir nichts. „Ich glaube, er ist ein Elf.“, flüsterte sie sofort im Anschluss in den Hörer. Die gute Frau wusste anscheinend nicht, dass Flüstern bei einem Elf völlig sinnfrei war. „Dann möchte ich ihn lieber nicht sehen.“ Ich hörte ihre Stimme etwas leiser. Vermutlich hielt sie den Hörer mit der Hand zu. Dann ein rumpelndes, männliches Lachen, das wie Spinnenbeine über meinen Rücken rieselte und die entsetzte Stimme der Frau, dass ich keinen Besuch wollte. Tja, anscheinend war ein Nein… ach was… Elfen akzeptierten kein Nein. Hoffentlich war das keiner vom Hohen Rat! Seelisch und moralisch kein bisschen auf einen Besuch von einem Elf eingerichtet, harrte ich der Dinge, die da auf mich zukamen. Oder besser gesagt: Auf den Elf, der jeden Moment an die Tür klopfen würde – sofern er sich überhaupt mit einem Klopfen aufhielt. Türen waren etwas für Menschen. Elfen hingegen ignorierten diese gern. Besonders geschlossene. Das, was dann tatsächlich wenig später vor mir stand, war kein Elf. Beinah wünschte ich mir einen. Es war ein Lakai. Und die verhießen im Normalfall Ärger. Fürs erste sollte ich höflich bleiben. Konnte nicht schaden. „Herr Heron, wie kann ich Ihnen helfen.“
„Nur Heron. Sie können mir helfen, indem Sie mich zu meinem Herrn begleiten.“ Ich nickte vorsichtig. „Kenne ich Ihren Herrn?“ Er schwankte mit dem Kopf, was bei seinem dürren, langen Hals wirkte, als könnte dieser jeden Moment abfallen. Wie hatte die Dame von der Rezeption diesen Heron für einen Elf halten können? Wo Elfen sich kaum von Menschen unterschieden, waren Lakaien einfach nur groteske Gestalten. Mit langen, dürren Gliedmaßen. Riesigen Füßen, grauer Haut, dicken Bäuchen und großen Köpfen, die besonders durch ihre spitzen, langen Nasen auffielen. Ob sie männlich oder weiblich waren, vermochte ich nie zu sagen. Aber der Name Heron ließ auf einen männlichen Lakai schließen. „Ich glaube nicht.“ Das war interessant. „Was will er dann von mir?“ Die Augen des Lakaien blitzten schelmisch. „Viel weiß ich nicht. Aber dass Sie mit dem Rat ein paar Schwierigkeiten haben und eine Anstellung suchen, scheint für meinen Herrn ausschlaggebend zu sein.“ Eine Anstellung, pah! Jeder stinknormale Job wäre mir genehm. Und woher wusste sein Arbeitgeber das? Ich hatte nirgendwo inseriert. Noch nicht. Das hätte – bei anhaltendem Misserfolg – als nächstes auf meinem Plan gestanden. Falls ich nämlich keinen Job fand, würde ich demnächst unter einer Brücke schlafen müssen oder meinen Körper verkaufen. Demzufolge hatte ich nichts zu verlieren. Es konnte nicht schaden, wenn ich mir zumindest anhörte, was der Herr des Lakaien von mir wollte. Wenn es mir gegen den Strich ging, konnte ich immer noch dankend ablehnen. Notfalls würde ich vielleicht sogar kreischend in die Arme des Hohen Rats rennen und um Hilfe betteln. Denn es gab Wesen, mit denen legte man sich nicht an. Und ein Lakai war beinah ein Garant dafür, es genau mit solch einem zu tun zu bekommen. „Nun denn, auf geht’s.“, sagte er, sobald ich zustimmend nickte, packte mein Handgelenk und brachte mich mit Magie auf dem schnellsten Weg zu seinem Herrn. Eine Möglichkeit der Fortbewegung, die ich ebenfalls beherrschte. Da ich jedoch nicht wusste, wo sein Herr anzutreffen war, blieb mir keine Wahl. Eine Vorwarnung hätte ich trotzdem nett gefunden. Mit einem Ruck blieb die Welt wieder stehen. Ich blinzelte kurz und begann, den Raum zu sondieren. Offenbar war dies eine Art Empfangshalle. Nur ohne Empfang oder ein herzliches Willkommen. Groß. Hell. Leer. „Folgen Sie mir.“ Ich hatte ein Echo erwartet. Es gab keines. Selbst die Geräusche meiner Schritte wurden verschluckt. Die Stirn runzelnd sah ich nach unten, denn ich hatte das Gefühl auf Gras zu laufen. Wow. Das war ein echt guter Zauber, wenn ich ihn nicht spürte. Oder ein verdammt mächtiger. „Wo sind wir?“ Der Lakai lief mit langen Schritten vornweg. „Fast im Reich meines Herrn.“
„Und wo ist das?“ Er gab einen knarzenden Laut von sich, der offenbar ein Lachen darstellte. „Überall da, wo das Auge nicht sieht und der Verstand nicht begreifen kann.“ Das war doch mal eine Ansage! Ich war noch genau so schlau wie vorher. Während er weiter lief, winkte er auffordernd mit der Hand. „Kommen Sie!“ Er könnte langsamer laufen. Dann würde ich weniger schnell zurück fallen. Warum hatte er uns nicht gleich an den richtigen Ort gebracht? Es gab nur eine mögliche Antwort darauf. Sie gefiel mir nicht. „Müssen wir eine Grenze überqueren?“
„Wir sind gerade dabei.“ Darum also die Eile. Einfach fantastisch! Denn eine magische Grenze zu übertreten, war wie die Unterschrift auf einem Organspendeausweis. Sofern ich richtig funktionierte und meine Magie mich nicht im Stich ließ, könnte ich überleben. Trotzdem war ich nur ein Mensch. Ein magiekundiger zwar, aber dennoch sterblich.
Mit einem Plopp verließ ich die Grenze und fand mich in einer Umgebung wieder, die stark an einen Dschungel ohne Bäume erinnerte. Grün, soweit das Auge reichte. Getupft mit bunten Blüten mir unbekannter Blumen, die von – mir ebenfalls unbekannten – Insekten umschwirrt wurden. Und inmitten all des Grüns stand ein prunkvolles Gebäude, das mit nichts mir Bekannten zu vergleichen war. Es war… atemberaubend. Nicht unbedingt schön, aber dermaßen bizarr, dass ich nicht begreifen konnte, wie es bei dieser Bauweise der Schwerkraft trotzte. Ein wenig sah es aus wie eine gigantische Pyramide mit aberwitzig vielen Fenstern, die auf dem Kopf stand. Hoffentlich sollte ich hier keine Fenster putzen! Nur gab es für die Wesen, die ihr Reich durch eine magische Grenze abschirmten, keinen Grund, dafür einen Mensch herbringen zu lassen. Besonders weil diese Wesen, die elitäre Rasse der Fae, als nicht sonderlich menschenfreundlich bekannt waren. Warum ich? Innerlich stöhnend und mich auf das Schlimmste vorbereitend, begab ich mich in die Führung des Lakaien. Außerhalb der Grenze ging das Reisen wieder rasant vonstatten. Einmal blinzeln und ich stand innerhalb des grotesk anmutenden Gebäudes – nahm ich an. „Mein Herr wird gleich bei Ihnen sein.“, sagte der Lakai, verbeugte sich und verschwand. Meine Gedanken spielten Ping Pong. Über die Fae wurde alles Mögliche berichtet. In manchen Dingen waren sich die Menschen einig, in anderen konnten ihre Meinungen kaum unterschiedlicher sein. Besonders, was das Aussehen eines Wesens dieser Rasse betraf. Sie seien Blau, meinten die einen. Mit sehr hellem Teint, wussten die anderen. Den Elfen ähnlich, gebrechlich, zart, androgyn. Einige berichteten, dass sie durchsichtige Lichtwesen seien; wieder andere, dass ihre Haut an das glitzernde Wasser einer türkisfarbenen Lagune erinnerte. Die letzten beiden Varianten fand ich persönlich am gruseligsten. Hieß das, man konnte die Innereien sehen oder waren die ebenso… durchscheinend? Meine Gedanken verhedderten sich, ehe sie vollständig stoppten, als ein Mann vor mir erschien, der keiner Beschreibung eines Fae gerecht wurde. Wäre ich ein Hund, hätte ich vermutlich spontan gehechelt. Abgesehen von seinen Augen, von denen sogar glühende Kohlen Frostbeulen bekämen, war dieser Typ heiß, heißer, hallöchen! Er war kein bisschen glitzernd, blau, durchsichtig, einem Elf ähnlich oder gar zerbrechlich. Es sei denn, vor mir stand kein Fae, sondern ein höllisch attraktiver Fürst der Finsternis. Wodurch ich es mit einem Dämon zu tun hätte. Was den Schwierigkeitsgrad des Überlebens noch einmal einen Tick erschweren würde. Nicht viel. Doch manchmal reichte eine winzige Nuance bereits aus, um einen Unterschied darzustellen. In seinem Gesicht konnte ich keinerlei Regung erkennen, während er mich mit seinem Blick förmlich sezierte. „Dein Elf ist ein Narr.“, sagte er statt einer Begrüßung oder gar so etwas Banalem wie der Vorstellung seiner Person. Aber ja, dem konnte ich durchaus zustimmen. „Du hast dich von ihm losgesagt und wenn ich deinen Haarschnitt ansehe, hast du nicht vor, einem weiteren Elf zu Diensten zu sein. Korrekt?“ Ich nickte, während er einmal langsam um mich herum schritt. „Du suchst einen Job, was mich zu der Vermutung bringt, dass du Geld brauchst. Was mich wiederum vermuten lässt, dass der Hohe Rat deine Reserven gekappt hat.“ Auch das stimmte. Hatte ich im Anflug einer geistigen Umnachtung mein Leid öffentlich gemacht? „Gibt es einen Vertrag?“ Abermals nickte ich. „Hast du ihn unterzeichnet?“
„Nein.“
„Das ist alles, was ich wissen muss.“ Er blieb hinter mir stehen, was mich nervöser machte, als ich sowieso schon war. Mich umzudrehen, getraute ich mich jedoch nicht. Kurz zuckte ich zusammen, als seine Hand über meine Wange und meinen Hals strich. Es fühlte sich an, als würden Funken über meine Haut tanzten. „Du bist annehmbar. Du wirst bleiben und lernen.“ Er sagte es und vollzog das, worauf ich bei Jason gehofft hatte. Ohne jegliches Gefühl, ohne Romantik, ohne mein Einverständnis. Ein Fae stand über diesen Dingen. Ein Biss, dem diverse Substanzen beigemischt waren und der alles veränderte.
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Der Kuss des Engels
Als ich aufwachte, lag Nikolai nicht neben mir. Mit einem Lächeln schüttelte ich den Kopf und stand auf, wobei ich mich ausgiebig streckte. Ich tapste ins Bad, in dem es nach seinem Duschgel roch und stellte mich unter die Dusche. Das Wasser prasselte angenehm kühl über meinen verschlafenen, aber immer noch sinnlich glühenden Körper. Meinetwegen durfte Nikolai mich jederzeit mit einem ausgedehnten Verwöhnprogramm überrumpeln. Mit einer Wiederholung, wann immer ihm danach war. Immer noch lächelnd stieg ich aus der Dusche und trocknete mich ab. Nach wie vor noch nackt stellte ich mir vor den Spiegel, der ausnahmsweise einmal nicht beschlagen war und föhnte meine Haare. Mein kurzer Bob ließ mich frecher erscheinen, als ich war. Meine großen, blauen Augen gefielen mir ebenso sehr wie meine langen Wimpern und meine Schmollmundlippen. Meine Nase – nun ja. Ich fand sie zu klein. Nikolai mochte sie so, wie sie war. Auch sonst war ich mit mir rund herum zufrieden. Manchmal hätte ich gern eine Körbchennummer größer, aber ich konnte meinen Busen schlecht aufpumpen. Meine Figur war normal. Weder auffallend schlank noch das andere Extrem. Mit 1,82 war ich zwar ein wenig größer als die Durchschnittsfrau, doch ich fand es prima. Und das Beste: Mich gab es zweimal. Grinsend lief ich ins Schlafzimmer, um mir dort frische Wäsche anzuziehen. Dann tapste ich barfuß nach unten, wo ich Nikolai telefonieren hörte. „Ich muss Schluss machen, Yuri, sie ist wach.“ Mich beschlich wie vorhin – vor Nikolais Ablenkungsmanöver, bei dem wir beide schließlich im Bett gelandet – ein komisches Gefühl, was ich jedoch rigoros abschüttelte. Yuri war Nikolais Bruder; keine Geliebte. Bestimmt hatten sie ein Geheimnis, von dem ich nichts wissen sollte. Noch nicht. In einer Woche waren Nikolai und ich ein Jahr zusammen. Vielleicht… Ich grinste bei dem Gedanken, dass Nikolai eventuell plante, mir einen Antrag zu machen. Wir waren glücklich. Warum noch mehr Zeit vergeuden? Vor lauter Aufregung wäre ich fast über meine Füße gestolpert. Ich konnte mich gerade noch am Treppengeländer festhalten, sonst hätte ich diese mit meinem Hintern poliert. „Hallo.“, sagte ich und lief in Nikolais weit ausgebreitete Arme. „Hallo, mein Mäuschen. Du hast so schön geschlafen, ich wollte dich nicht wecken.“ Ich schmiegte mich in seine Umarmung und vergrub meine Nase in der Kuhle an seinem Hals. „So liebesbedürftig?“ Ich kicherte leise. „Nur bei dir.“ Nikolai strich mir sanft über den Rücken. „Bist du mir böse, wenn ich nochmal los mache? Yuri und ich…“
„Nein. Mach du nur. Wird es spät?“ Ich lehnte mich in seinen Armen ein wenig zurück. Er sah das Glitzern in meinen Augen und zwinkerte mir zu. „Auf keinen Fall. Ich möchte heute Abend noch einmal von meiner schönen Freundin kosten.“ Grinsend legte er seine Lippen auf meine und küsste mich. Gründlich. „Damit ich unterwegs nicht vergesse, wie du schmeckst.“ Sein Raunen ließ meine Beine ganz zittrig werden. Ich liebte diesen Mann; heiß und innig. Er war noch genauso aufmerksam und um mein Wohlergehen bemüht wie am Anfang unserer Beziehung. Ich fragte mich nicht das erste Mal, womit ich solches Glück verdient hatte, während meine Schwester mit körperlichen und seelischen Narben im Rollstuhl saß und von der großen Liebe nicht mehr zu träumen wagte. Dabei war der Unfall, bei dem wir unsere Eltern verloren hatten, zehn Jahre her und ganz sicher nicht ihre Schuld. Sie hatte schwer an den Konsequenzen zu knabbern, doch leider war es mir bisher nicht gelungen, sie von ihrer Unschuld zu überzeugen. „Woran denkst du, Stella-Mäuschen?“ Ich seufzte. „Daran, dass ich mit dir so glücklich bin und Ava jegliches Glück für sich verneint.“ Nikolai drückte mich an sich. „Ja, das ist jammerschade. Dabei ist Yuri total verschossen in deine Schwester.“
„Was?“ Er lachte leise. „Sag es ihm bloß nicht. Er bringt mich um, wenn er erfährt, dass ich es dir erzählt habe.“
„Ich werde es mit keiner Silbe erwähnen. Lebend mag ich dich nämlich sehr viel lieber.“
Eine viertel Stunde später war Nikolai unterwegs zu seinem Bruder und ich suchte in der Küche nach etwas Essbarem. Zwar war der Kühlschrank voll, doch ich hatte keine große Lust mich erst an den Herd zu stellen. Schließlich nahm ich mir nur eine Scheibe Brot und Aufstrich, dazu einen Yoghurt. Während ich mein verfrühtes Abendbrot verputzte, nahm ich mir vor, Ava später anzurufen. Vielleicht konnte ich sie ein wenig aufmuntern. Manchmal gelang mir das. Viel zu oft jedoch nicht. Gerade, als ich den Teller in die Spülmaschine stellte, schellte es an der Tür. Ich erwartete keinen Besuch und für Nikolai wäre es zu früh. Wobei ich nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, wenn er schon wieder da wäre. Also ging ich zur Tür und betätigte die Gegensprechanlage. Umso irritierter war ich, Yuri zu hören. „Nikolai ist auf dem Weg zu dir. Ihr hattet noch irgendwas vor?“ Ich erwähnte nicht, dass ich glaubte zu wissen, woran die beiden feilten. Dann wäre es schließlich keine Überraschung mehr, sofern ich mich nicht grundlegend irrte. Ein grummelndes Gefühl, dass sich fast wie ein Knoten in meinem Bauch anfühlte, breitete sich aus, als Yuri mir erklärte, dass er Nikolai schon seit Tagen weder gesehen noch gesprochen hatte. Mir wurde leicht übel. „Kann ich reinkommen, Stella?“ Was hatte das zu bedeuten? Ging Nikolai fremd? Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als Yuri mit seinen großen, dunklen Augen, die nagende Sorge ausdrückten, und dem ewig verstrubbelten Haar in meine Wohnung trat. Yuri war auf ebenso klassische Art gutaussehend wie sein jüngerer Bruder. Allerdings hatte er blondes Haar, war ein wenig kleiner als Nikolai und etwas muskulöser. Zudem war Yuris Nase mehrmals gebrochen gewesen und schief wieder zusammen gewachsen. Das tat seinem guten Aussehen jedoch keinen Abbruch. „Hast du was Alkoholisches für mich?“ Ich nickte und holte ihm ein Bier aus dem Kühlschrank. „Danke.“ Er öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck. „Was ist los, Yuri?“ Meine Hände schwitzten. Mein Magen drehte Loopings und mein Herz klopfte wie ein wahnsinnig gewordener Specht gegen meine Rippen. „Ich glaube, Nikolai hat sich mit den falschen Leuten eingelassen.“ Oh Gott! „Was für Leute? Vampire?“ Nikolai schüttelte den Kopf und hob verzweifelt die Hände. „Ich bin mir nicht sicher.“
„Warum glaubst du es dann?“ Abermals trank er einen großen Schluck. „Wusstest du, dass er bei seiner Arbeit rausgeflogen ist?“ Das war mir neu. „Er geht jeden Morgen arbeiten. Du musst dich irren.“ Yuri lachte freudlos. „Ich irre mich nicht. Ich wollte Nikolai von der Arbeit abholen. Sein Chef hat mir erklärt, dass er mich kein weiteres Mal dort sehen wollte, weil ich sicher – ich zitiere – genau so viel Dreck am Stecken habe wie mein Bruder. Erstmal habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Manche Chefs reagieren über. Aber ich habe ein paar Leute reden hören. Worauf hat er sich nur eingelassen?“ Yuri ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, stellte die Flasche auf den Tisch und raufte sich die Haare. Unglücklich hob er den Kopf und sah mich ängstlich an. Das passte nicht zu ihm. Yuri war immer… stark. Allwissend. Der gute Kumpel, mit dem man Pferde stehlen konnte. Ihn dermaßen hilflos zu sehen, brachte mich völlig aus dem Konzept. „Was… hast du denn gehört?“ Yuri griff nach der Flasche und hielt kurz inne. „Menschenhandel? Organhandel? Untergrundorganisationen? Schwarzgeld? Erpressung? Such es dir aus. Es ist von allem was dabei.“ Ich schluckte. Schluckte ein weiteres Mal. „Das würde Nikolai nie tun.“
„Hab ich auch geglaubt. Darum bin ich ja heute hergekommen.“ Scheiße! „Und jetzt?“
„Ich habe ein ungutes Gefühl, Stella. Ruf Ava an. Ich glaube, er könnte es auf sie abgesehen haben.“ Meine Irritation fiel in sich zusammen und wandelte sich zu Wut. „Wieso Ava? Was will er von ihr?“
„Ich hoffe, ich irre mich. Aber wenn das, was auf der Straße gemunkelt wird, auch nur ansatzweise wahr ist, dann liefert er bestimmte Menschen an zahlende Kunden. Selbst wenn Ava nicht genauso besonders wäre wie du, ist sie dennoch eine Frau. Eine, die sich nicht wehren kann. Was meinst du, wie viele Perverse darauf stehen?“ Mein Herz klopfte inzwischen so schnell, dass ich bestimmt gleich einen Herzstillstand erleiden würde. Schon griff ich zum Telefon und wählte Avas Handynummer; ein Festnetz besaß sie nicht. Sie ging beim zweiten Klingeln ran. Ich war erleichtert, ihre Stimme zu hören. „Hey Süße, wie geht es dir?“
„Soweit ganz gut. Warte mal, bei mir hat es geklingelt. Bleib dran, ja?“ Wieder grummelte mein Magen. „Nein, warte…“ Verdammt, sie hatte das Telefon bereits weggelegt und war auf dem Weg zur Tür. Hoffentlich strafte mich mein innerer Radar Lügen. „Stell mal laut!“, sagte Yuri, was ich sofort tat. Gleichzeitig legte ich einen Finger an die Lippen. Im Nachhinein wusste ich nicht, warum ich das getan hatte. Denn dann ging alles ganz schnell. Ava begrüßte Nikolai und einen weiteren – wie sie sagte – feschen Mann. Dass sie so gut gelaunt war, war selten. Doch Nikolai und der Fremde interessierte Avas gute Laune wenig. Ich hörte Avas Schreie, hörte den Schuss und hörte die kalten Worte des Fremden. „Den verkrüppelten Körper brauchen die nicht. Sie wollen nur das Gehirn. Pack den Kopf in die Truhe und dann lass uns verschwinden. Beeil dich! Je frischer er ist, umso mehr Kohle fassen wir ab. Die andere Schwester ist übrigens fast das Dreifache wert, das weißt du.“ Ich biss mir auf die Knöchel meiner geballten Faust, Yuri schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Dann reagierte er intuitiv, nahm mir das Telefon ab und drückte es aus. Er wartete kurz mit zittrigen Fingern, dann wählte er ihre Nummer erneut. Niemand nahm ab. Mit verschleiertem Blick, weil die Tränen mir die Sicht raubten, sah ich ihn an. Er sah wütend und erschüttert aus. „Falls sie das Telefon entdecken, sehen sie, wer der letzte Anrufer war. In diesem Fall waren das wir… so oder so. Aber …“
„ … Ava konnte nicht mehr rangehen.“, ergänzte ich seinen Gedankengang. „So ungern ich das sage, Stella, aber ich denke, du solltest so schnell wie möglich verschwinden.“ Das war mir ebenfalls klar. Mit diesem Monster wollte ich nicht unter einem Dach leben. Zumal ich offenbar ebenfalls auf deren Liste stand. Doch vorher… „Wir müssen die Polizei rufen.“
„Das erledige ich. Ich lasse mir was einfallen. Pack du dir die nötigsten Sachen. Hast du genug Bargeld?“ Ich verneinte. „Heb dir soviel ab, wie möglich und dann fahr weg. Weit weg. Sag Niemandem wohin, noch nicht einmal mir. Halte dich vom Internet fern, ebenso vom bargeldlosen Bezahlen. Hast du verstanden?“ Das hatte ich. „Was wird aus dir?“ Yuri zog mich eng in die Arme. Deutlich hörte ich, dass seine Stimme brach und erinnerte mich an Nikolais Worte, dass Yuri Ava liebte. „Ich kann auf mich aufpassen.“ Ich nickte. „Gut. Pass wirklich auf dich auf, ja?“ Ich sah Yuri tief in die bekümmerten Augen und begann dann mit zittrigen Händen, wild pochendem Herz und tränennassen Wangen die wichtigsten Dinge zu packen. Ich suchte alle Bankunterlagen zusammen, meinen Pass, meinen Ausweis und sämtliche Papiere, die wichtig sein könnten. Unter anderem die, die dafür Sorge trugen, dass Nikolai das Haus nicht ohne mein schriftliches Einverständnis verkaufen konnte. Zu guter Letzt schrieb ich handschriftlich meine Kündigung und steckte sie in ein Kuvert. Ich würde in nicht absehbarer Zeit sowieso nicht auf Arbeit gehen können. Ein letztes Mal sah ich mich um. In dieses Zuhause hatte ich einen Großteil des Erbes meiner Oma und meiner Eltern hineingebuttert. Dass ich dieses Haus zurück lassen musste, tat mir weh. Aber nicht halb so sehr wie Avas Verlust. Verursacht durch den Mann, den ich innig liebte … geliebt hatte. Ich spürte deutlich, wie der Hass auf ihn an mir nagte. Nochmals blickte ich mich um, überlegte, ob ich auch nichts vergessen hatte. Der Brief! Zwei Tage vor ihrem Tod hatte meine Oma mir einen Brief überreicht. Sie hatte mir eingeschärft, ihn stets in meiner Nähe zu haben, aber vor neugierigen Augen geschützt. Ich durfte niemandem davon erzählen, egal, wie viel mir diese Person auch bedeutete. Auch Ava nicht. „Herzen können belogen werden, mein Schatz. Behalte diesen Brief für dich. Du wirst ihn eines Tages sehr dringend benötigen und dann sollte niemand außer dir den Inhalt kennen. Versprich es mir!“ Ich versprach es ihr, weil ich genau wusste, dass meine Oma manchmal diese Vorahnungen hatte, die immer eintrafen. Zwei Tage später war sie tot. Drei Tage später lernte ich Nikolai kennen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich den Brief öffnen würde. Später. Im Auto. Wenn ich genug Kilometer zwischen mich und diesen Mörder gebracht hatte, der auch hinter mir her sein könnte. Woher sollte ich wissen, ob ich ihm wichtiger war als Geld? Avas Tod kümmerte ihn schließlich auch nicht. Am liebsten hätte ich mich zusammen gerollt und geweint, bis keine Tränen mehr übrig waren. Es tat so entsetzlich weh und trotzdem musste ich jetzt stark sein. Ich würde kein Ziel für Nikolai sein. Ich würde mir diesen Alptraum aus dem Herzen reißen und nie wieder jemanden dort hineinlassen. Die einzige, die immer dort drin sein würde, wäre Ava. Meine süße, nur zwei Minuten jüngere Schwester, mit der ich nie wieder lachen, tratschen oder streiten würde.
Nie wieder.
Der Kuss des Vampirs
Mit einem mulmigen Gefühl öffnete ich den Brief einer ehemaligen Klassenkameradin, der mir vorhin aus dem Briefkasten entgegen geflattert war. Hastig überflog ich die Zeilen; las sie ein zweites und sogar ein drittes Mal. Am Inhalt änderte sich nichts. Eine Einladung zu einem Klassentreffen. Ausgerechnet ins Vladis. War Pamela noch ganz bei Trost? Mich brachten keine zehn Pferde dorthin. Tagsüber nicht und abends gleich tausendmal nicht. Pam hatte sich schon immer für unwiderstehlich gehalten. Auffallend hübsch, aber dumm wie Bohnenstroh. Ich konnte mir – besonders nach dieser Einladung – schwer vorstellen, dass sich daran etwas geändert haben sollte. Der Brief samt Inhalt landete im Papierkorb. Mal ganz davon abgesehen, dass ich in kein von Vampiren verseuchtes Gebiet oder gar Restaurant gehen würde, hatte ich auch sonst kein Interesse an einem Klassentreffen. Vor zwei Jahren hätte ich vermutlich anders darüber gedacht. Aber vor zwei Jahren war mein Leben auch noch in Ordnung gewesen. Ich hatte einen guten Job gehabt. War verlobt gewesen mit dem besten Mann, den ich mir wünschen konnte. Die Hochzeitsplanungen waren im vollen Gange gewesen; samt Hochzeitsplaner und bereits bestätigten Terminen. Vampire hatten mir einen dicken, fetten Strich durch die Rechnung gemacht. Seitdem hatte ich gearbeitet, um zwei Kredite und meine laufenden Kosten zahlen zu können. Und es gab niemanden, der mir dabei helfend hätte unter die Arme greifen können. Zu meinen Eltern und Geschwistern hatte ich seit langem keinen Kontakt mehr, und Ricos Eltern waren lange vor ihm gestorben. Unsere Ersparnisse hatten nicht ausgereicht, um die angefangene Hochzeitplanung und Ricos Beerdigung zu zahlen. Doch der Hauptanteil des Kredits bestand aus dem Hauskauf. Ein Haus, das Rico und ich nur wenige Tage vor seinem Tod erworben hatten und das ebenfalls nicht mehr existierte. Denn daran, eine Versicherung abzuschließen, während wir noch gar nicht darin wohnten, hatten wir nicht gedacht. Jetzt hockte ich auf einem Schuldenberg, der kaum kleiner zu werden schien. Ich war unverheiratet, seit Ricos Tod Single und von meinem einstigen Träumen weiter entfernt als ein Vogel von der Sonne. Keine Hochzeit, keine Familie mit zwei Kindern, kein schickes Häuschen mit weißem Gartenzaun, kein Auto, kein Hund. Ich hatte noch nicht mal eine Katze. Und seit vier Tagen hatte ich – wegen Personaleinsparung – nicht einmal mehr einen Job. So viel dazu, mein Leben in absehbarer Zeit wieder auf die Reihe zu bekommen. Darum kein Klassentreffen, sondern Bewerbungen schreiben und hoffen, dass ich so schnell wie möglich wieder eine Arbeit fand. Irgendeine. Ich würde alles machen. Sogar Klos putzen, wenn es sein musste. Mit einem Abstrich: Ich würde ums Verrecken nicht für einen Vampir arbeiten. Mein Telefon klingelte. Sicher Elsie, die ebenfalls eine Einladung bekommen hatte. Sie war die einzige aus meiner ehemaligen Klasse, mit der mich nach all den Jahren noch immer eine tiefe Freundschaft verband. Dabei waren wir so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie war groß, kräftig gebaut, mit langen blonden Locken, stahlblauen Augen und einem derben Humor ausgerüstet. Ich war etwas kurz geraten – mickrige 1,60 – hatte kurze dunkle Haare, grüne Augen, war schlank und konnte Witze nicht zu Ende erzählen, ohne die Pointe zu versauen und dabei haltlos zu kichern. Elsie war wie ich 27 und Mutter von Zwillingen. Es war mir ein Rätsel, wie sie und ihr Mann die beiden Jungen, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, auseinander halten konnten. Vielleicht taten sie auch nur so. Ich für meinen Teil war dazu nicht in der Lage. Ich nahm das Telefongespräch an. Es war Elsie; wie vermutet. Und es ging um das Klassentreffen; ebenfalls wie vermutet. Schön wäre es, wenn ich bei Lottozahlen ebensolch eine Eingebung hätte. Hatte ich aber nicht.
Elsie stimmte mir einvernehmlich zu, dass Pamela nun endgültig dem Wahnsinn verfallen sein musste. Ein Rudel Menschen in die Höhle des Löwen – oder in besagtem Fall der Vampire – einzuladen, grenzte an grob fahrlässige Selbstüberschätzung. Entweder das oder sie gehörte zu einem Vampir, womit die Einladung noch einen Tick zweifelhafter wäre. Vampirsklaven taten alles, um ihrem Vampir zu gefallen. Sie lebten für ihn. Sie atmeten für ihn. Sie starben für ihn. Oder sie; es gab schließlich auch weibliche Vampire. Elsie schlug vor, eine Gegeneinladung zu schreiben. Gleiches Datum, anderer Ort. Aber da sie ebenso wenig Lust darauf hatte wie ich, verzichtete sie bereitwillig auf die Umsetzung dieses Gedanken. Noch während ich mit Elsie plauderte, klopfte es im Telefon an. „Süße, ich ruf dich gleich zurück. Da kommt ein zweiter Anruf rein; könnte wichtig sein.“ Verständnisvoll, wie meine Freundin hin und wieder sein konnte, legte sie auf, so dass ich das zweite Gespräch annehmen konnte. Ich wünschte inbrünstig, ich hätte es nicht getan. Der reichlich herablassenden Dame am anderen Ende der Leitung wäre ich liebend gern an die Gurgel gegangen. Leider reichten meine Fähigkeiten als Durchschnittsmensch nicht dazu aus, durchs Telefon zu greifen und mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Als Arbeitslose durfte ich – Holly Marks – nicht wählerisch sein. Es war egal, welche Vorlieben, Phobien und Abneigungen ich hegte. Zeigte ich mich unkooperativ, würde mein Geld gekürzt oder ganz gestrichen werden. Das konnte ich mir einfach nicht leisten. Es gab nette Mitarbeiter beim Amt – ohne Frage. Doch ich schien die Arschkarte gezogen zu haben, indem ich eine Bearbeiterin zugeteilt bekommen hatte, die mich unbedingt schikanieren wollte. Vielleicht gefiel ihr mein Name nicht. Damit war ich kein Einzelfall. Und da ich auf einen Job angewiesen war, würde ich mich dem Vorschlag der gehässigen Dame beugen müssen, bevor ich mit noch schlimmeren Arbeitsvorschlägen oder Beschäftigungsgelegenheiten gemobbt werden würde. Auch das wäre kein Einzelfall. Nachdem ich der Aufforderung der Dame zugestimmt hatte – das Ganze würde mir auch noch schriftlich zugestellt werden – war ich unsagbar stolz auf mich, dass ich die Worte, die mir bereits auf der Zunge lagen, nicht aussprach. Einer Beamtin mit einem Mord an einem möglichen Arbeitgeber, bedingt durch eine Kurzschlussreaktion, zu drohen, kam sicher nicht ganz so gut an. Mein Blutdruck stieg in bedenkliche Höhen, während ich mit meinen Zähnen einen Betonpfeiler hätte durchbeißen können. Zumindest in der Theorie. Denn so fest, wie ich meine Hand momentan um das Telefon schloss, müsste dieses dem Druck – theoretisch – ebenfalls nicht standhalten. Tat es aber. Meine Kräfte ließen arg zu wünschen übrig. Bevor ich Elsie zurück rufen konnte, brauchte ich einen Schnaps. Zu schade, dass ich Derartiges nie vorrätig hatte. Ich könnte kotzen! Weniger wegen des nicht vorhandenen Alkohols als wegen des unmöglichen Jobvorschlags dieser hochnäsigen Dame. Wobei Jobvorschlag nichts anderes hieß, als dass ich mich umgehend bewarb oder mit sofortigen Konsequenzen zu rechnen hatte. Ich hasste dieses Gefühl, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden. Es war nicht meine Schuld, dass ich gekündigt worden war. Es hatte etliche meiner Kollegen ebenfalls erwischt. Nur hatte ein Mann bei Weitem bessere Chancen, recht zeitnah wieder in einen Job einzusteigen. Also durfte ich nicht wählerisch sein. Ich würde in den sauren Apfel beißen müssen und mich trotz meiner Abneigung gegen Vampire bei einem bewerben. So schnell waren meine guten Vorsätze – nie niemals never ever bei einem Vampir zu arbeiten – zum Scheitern verdammt. Mir war ganz schlecht vor Wut. Nur interessierte das weder meinen Kontostand, meine Schulden, die nervige Fliege, die mir seit gut einer Minute um den Kopf schwirrte noch irgendeinen vom Amt. Hatte ich schon erwähnt, dass ich kotzen könnte? Könnte ich! In hohem Bogen durch das offene Fenster, auf die Straße und direkt auf das – was natürlich nicht passierte – vorbei fahrende Auto der Dame, die mir eben auf sehr herablassende Art dieses grässliche Angebot unterbreitet hatte.
Ein Vorstellungsgespräch bei einem Vampir. Super! Die Augen verdrehend und den Mund gequält verzogen, betrachtete ich mich drei Stunden später im Spiegel. Schwarz – die Farbe der Wahl bei solch einem Termin. Ich vibrierte vor fehlender Begeisterung und machte einem wütenden Trauerklößchen alle Ehre. Hey! Ich stellte mich vor. Das sollte der Dame vom Amt genügen. Wenn sie jedoch glaubte, dass ich mich dafür in Schale schmiss und dem Vampir Honig – Pardon, Blut – ums Maul schmierte, war sie schief gewickelt. Ja, ich brauchte einen Job. Aber diesen wollte ich nicht. Ebenso gut könnte man jemanden mit Spinnenphobie in die zoologische Abteilung für Arachnoiden vermitteln. Ich hasste Vampire nicht nur, ich machte mir vor Angst in die Hose bei der Vorstellung, mich in unmittelbarer Nähe eines solchen Wesens aufzuhalten. Es sollte mir demzufolge hoch angerechnet werden, dass ich mich überhaupt vorstellte. Persönlich – wie gefordert. Bloß gut, dass ich kein Auto mehr besaß. Ich hätte mich vor lauter Aufregung überhaupt nicht aufs Fahren konzentrieren können. Blieb zu hoffen, dass ich bei Bus- und Bahnfahrt die Haltestellen zum Um- und Aussteigen nicht verpasste. Mein Herz pochte laut und dröhnend wie ein riesiger, tiefer Gong. Oder Doppelgong, so schnell, wie es klopfte. Meine Hände waren feucht vom Angstschweiß. Meine Gesichtsfarbe sicher ungesund hellgrau. Mein Magen drehte sich und schlingerte wie ein Auto auf Glatteis. Alles in allem war ich in keinem optimalen Zustand für ein Vorstellungsgespräch. Aber das lag allein an dem Arbeitgeber, bei dem ich mich vorstellen musste. Bei allen anderen wäre ich sicher nur nervös. Von Nervös war ich jetzt hingegen schon etliche tausend Kilometer entfernt und kämpfte stattdessen mit den gigantischen Auswüchsen einer Panikattacke. Je näher ich dem Zielort kam, umso schlimmer wurde es. Inzwischen zitterten sowohl meine Hände als auch meine Beine. Ich sah aus, als stünde ich unter Strom. Fehlte nur noch, dass mir die Haare zu Berge standen. Sehr ärgerlich. Wenn ich schon einem solchen Arschlochwesen gegenüber treten musste, hätte ich gern souveräner gewirkt; wütend, aber nicht ängstlich. Definitiv nicht ängstlich! Aber eine Angst zu überwinden, die mir ins Herz geätzt worden war, schien mir unmöglich. Selbst mit all meinem Hass auf Vampire verschwand diese Angst nicht. Denn egal, wie wütend ich war oder wie viel Hass in mir brodelte, war mir doch klar, dass sie mich mit nur einem Gedanken vernichten konnten. Oder Schlimmeres. Ich hatte Vampire in Aktion gesehen. Ich konnte es nicht vergessen. Weder die Geräusche brechender Knochen, das Reißen von Haut, die Schreie, das Blut. Meine Ohnmacht, als ich Ricos Tod handlungsunfähig mit ansehen musste. Als ich zusehen musste, wie seine leblosen Überreste vom Feuer verschluckt wurden. Die kalten, gleichgültigen Augen von Ricos Mörder, die sich auf mich richteten und mich im selben Moment vergaßen. Ich war unwichtig. Meine Schmerzen waren unwichtig. Was ich verloren hatte, war unwichtig. Bis heute wusste ich nicht, wodurch Rico die Aufmerksamkeit der Vampire auf sich gezogen hatte. Oder warum ich noch lebte. Ich lebte gern – keine Frage. Doch ohne Rico war es nur noch ein halbes Leben. Eines, was aus Schulden, Schikanen und Entbehrungen bestand. Aus zerplatzten Träumen, an deren Stelle Alpträume getreten waren. An der Haltestelle musste ich mich zwingen, aus der Bahn zu steigen. Der Weg bis zu der angegebenen Adresse für das Vorstellungsgespräch erschien mir unendlich lang, schwer und steinig. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als wäre überhaupt keine Zeit vom Aussteigen aus der Bahn bis zum Eingang des riesigen Gebäudes vergangen. Ich atmete mehrmals schnell hintereinander aus und ein, ballte meine Hände zu Fäusten und ließ sie wieder locker. Dadurch meinen Pulsschlag zu beruhigen, war so effizient wie das Anlocken eines Wals mit Plüschpinguinen. Schließlich gab ich mir einen Ruck, öffnete die gläserne Tür und trat ins Innere.