Chick-Lit by
*** stehen für ausgelassen Text, der spoilern würde
Herzbubenprinz
Ich kannte den Weg. Ich war ihn schon so oft gegangen und dennoch war es jedes Mal, als würde mir jemand einen Strick um den Hals legen. Je näher ich dem Grabstein meines besten Freundes und meiner großen – und bisher einzigen – Liebe kam, umso enger zog sich die Schlinge um meinen Hals zusammen. Ich hatte gehofft, dass es irgendwann leichter werden würde. Sich weniger beschissen anfühlen und weniger weh tun würde. Aber sein Verlust hatte mir ein derart großes Loch in die Brust gerissen, dass es sich anfühlte, als würde ein Teil von mir in seinem Grab liegen und seit über 14 Jahren zu Staub zerfallen. Denn dass er dort lag, war meine Schuld. Der dicke Kloß in meinem Hals wurde unerträglich. Eine Träne lief über meine Wange. Dann noch eine. Verärgert wischte ich sie beiseite. Wie oft hatte ich mir vorgenommen, an seinem Geburtstag an seinem Grab nicht zu weinen. Bisher hatte ich immer versagt.
Ich bog an der riesigen Blumeninsel in der Mitte des parkähnlich angelegten Stadtfriedhofs nach rechts. Das Schild mit der 51 war mir schon… vertraut. Viel zu vertraut. Verhasst. Der Versuch, den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken, blieb ein Versuch. Meine Tränen aufhalten zu wollen ebenso. Schließlich erreichte ich den schwarzen Grabstein, dessen linke Seite goldene Sterne zierten. Meine Augen verschwammen, konnten die Schrift nicht lesen. Aber ich wusste, wessen Name auf dem Stein stand. „Happy Birthday, Skydancer.“, flüsterte ich, weil ich wusste, dass meine Stimme brach. Hätte ich laut gesprochen, hätte ich gekrächzt und das kam mir genauso unpassend vor wie Lucas Grab, vor dem ich hockte. Die rote Rose, die ich ihm jedes Jahr zum Geburtstag brachte, hätte ich ihm… gern persönlich gegeben. Er hätte mich in die Arme gezogen, mich fest an sich gedrückt, meinen Scheitel geküsst und irgendeinen lustigen Kommentar gehabt. Ich hätte alles dafür gegeben… die Zeit zurückdrehen zu können… diesen schrecklichen Sonntag vor über zehn Jahren aus dem Kalender zu zaubern. Aber ich war kein Zauberer. Ich war noch nicht mal eine verdammte Fee. Ich hatte noch nicht mal Ähnlichkeit mit einer Fee! Außer vielleicht diesen puderzuckrigen Großmutterfeen im Märchen. Nur waren die sichtbar älter.
Ich vermisste Luca so furchtbar. Meine Familie und Freunde hatten behauptet, dass es besser werden würde. Doch an Tagen wie heute – und auch an vielen anderen – hatte ich meine Zweifel. Es fühlte sich an, als würde mir jemand die Haut abziehen. Quälend langsam. An manchen Tagen war es besser. An anderen wusste ich vor Schmerz nicht, wie ich damit leben sollte. Ein Schluchzen löste sich aus meiner Kehle. Dann ein zweites. Die Tränen rannen sowieso schon die ganze Zeit. Ich wusste einfach nicht, wann dieser scheiß Schmerz aufhören würde. Wann ich ohne Luca wieder normal denken konnte. Wann ich aufhörte, von ihm zu träumen. Seine Stimme zu hören. Sein Gesicht zu sehen. Bei anderen funktionierte das doch auch! Ich konnte mich weder an die Stimmen noch die Gesichter meiner Großeltern in allen Einzelheiten erinnern. *** Warum hörte diese Sehnsucht bei Luca nicht auf?
Eine Hand legte sich auf meine Schulter, was mich derart zusammen zucken ließ, dass ich beinah das Gleichgewicht verloren hätte. Starke Hände hielten mich davon ab. „Was tust du hier?“ Diese Stimme… schneidend, wütend und trotzdem…. Woah! Schluckend drehte ich mich um und sah nach oben. Höher. Ich war bestimmt nicht klein – nur zu klein für mein Gewicht. Aber dieser Kerl war ein Riese. Ein riesiger Riese und absolut durchtrainiert. An ihm gab es bestimmt kein einziges Gramm Fett. Er könnte welches von mir bekommen, falls seine Gelenke mal quietschen sollten. „Das geht Sie“, ich kannte diesen Kerl nicht und würde mich nicht auf sein Niveau begeben und wildfremde Leute duzen, „überhaupt nichts an.“
„Bringst du ihm jedes Jahr diese Rose?“ Mit fest zusammengekniffenen Lippen und eiskalten, aber verflixt schönen, herrlich grünen Augen, deutete er auf die Rose. Als wäre es Müll. Und was ging es diesen Kerl an? War er derjenige, in den Luca verliebt gewesen war? Ich antwortete diesem Mann nicht. Er schnaubte. „Du bist schuld, dass Luca tot ist und besitzt die Frechheit, an seinem Grab zu heulen?“ Wie oft hatte ich mir selbst die Schuld gegeben? Aber es von einem anderen zu hören, das ging zu weit. Das würde ich mir nicht anhören. „Mach’s gut, Skydancer.“, flüsterte ich, während ich den Grabstein tätschelte. Dann drehte ich mich um und ging. „Lass dich hier nie wieder blicken!“
Welches Recht besaß dieser Typ, dies zu sagen? Ich drehte mich zu dem Kerl um, der wie ein unverrückbarer, wütender Berg neben Lucas Grab stand. „Das ist ein öffentlicher Friedhof. Wenn ich meinen besten Freund besuchen will, tue ich das. Es ist mir scheiß egal, wer Sie sind. Oder sind Sie der Typ, in den Luca verliebt war?“ Der Mann stutzte kurz, als hätte er sich verhört. „Habe ich auch nicht erwartet“, fuhr ich fort, „Luca hätte sich nie mit Idioten wie Ihnen abgegeben.“ Das sagte ich zwar, doch ich wusste es nicht. Immerhin hatte ich damals ja nicht einmal geahnt, dass Luca sich zu Männern hingezogen fühlte – obwohl ich seine beste Freundin gewesen war. Ich drehte mich weg und lief den Weg zurück. Nur noch einmal abbiegen, um auch meine zweite Rose abzulegen. *** Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich zitterte. Passierte mir immer, wenn ich aufgewühlt war. Das Zittern ließ erst nach, als ich zehn Minuten später auf dem Heimweg war.
Zuhause angekommen nahm ich mir zum ungefähr millionsten Mal vor, mich endlich neu zu verlieben und Luca als gut behüteten Schatz in einer kleinen Ecke meines Herzens zu verwahren. Denn vergessen – ich glaubte nicht, dass mir das je gelingen würde. Nur war das mit der Liebe so eine Sache: Sie kam nicht auf Abruf. Sie überfiel einen, wenn man sie am wenigsten erwartete. Und bei allen Männern, die ich bisher kennengelernt hatte, war der Funke einfach nicht vorhanden gewesen. Kein Herzklopfen, keine Schmetterlinge im Bauch. Sie waren nicht der erste Gedanke beim Aufwachen gewesen und auch nicht der letzte beim Einschlafen. Zugegeben hatte ich es mit festen Beziehungen auch nie ernsthaft probiert. Vielleicht… vielleicht fürchtete ich mich vor dem Schmerz, wenn es zu Ende war.
Vielleicht… vielleicht ließ ich mich deshalb immer auf die falschen Männer ein. Auf Männer, die mir kein Herzklopfen bescherten. Und One Night Stands. Da ging ich dieses Risiko gar nicht erst ein, mein Herz zu verlieren. War das dumm oder das Cleverste, was ich tun konnte? Keine Ahnung. Ich wusste aber, dass ich mich nach einer Partnerschaft sehnte. Einer ausgewogenen, liebevollen. Es musste nicht gleich die ganz große Liebe sein, aber Vertrauen und Verständnis – das sollte schon da sein. Seufzend saß ich auf dem Sofa und betrachtete meine Hände, die ich verschränkt auf meinen Beinen abgelegt hatte. Fand ich keine Liebe, weil ich… naja… zu groß war. Zu groß im Sinne von zu breit? Was komisch wäre, weil ich Männer für Sex schließlich auch fand. Belanglosen Sex, der meist unbefriedigend war, aber für den größten Frust durchaus brauchbar. Möglicherweise pickte ich mir dabei eben doch immer wieder die für mich falschen Männer heraus. Allerdings bezweifelte ich, dass ich mit einem Mann, in dem in mich verlieben könnte, gleich am ersten Abend in die Kiste stieg. Vermutlich würde ich mit demjenigen erstmal nur quatschen. Stundenlang. Vielleicht… ach, verdammisch! Diese ganzen Gedanken brachten rein gar nichts. Ich wollte mich verlieben – eventuell – aber mein Unterbewusstsein musste mich davon abhalten. Oder mein schlechtes Gewissen, was Luca betraf. Dabei sollte ich wütend auf ihn sein, weil er mich nicht direkt in seine Sorgen eingeweiht und mir stattdessen den Brief in die Hand gedrückt hatte. Mit der Aufforderung, ihn in aller Ruhe zu lesen und dann mit ihm zu reden. War es ihm so peinlich, dass er sich in einen Mann verliebt hatte? Hatte er geglaubt, ich würde ihn verurteilen? Man konnte sich schließlich nicht aussuchen, für wen das Herz schlug. Weder Luca, dass es für seinen besten Freund schlug noch ich, da ich mich ausgerechnet in Luca verliebt hatte, für den ich ganz offensichtlich vom falschen Geschlecht gewesen war.
Trotzdem wusste ich bis heute nicht, wer dieser beste Freund gewesen war. Klar, Luca hatte nicht bei uns im Dorf gewohnt, sondern war hier in dieser Stadt zuhause gewesen. Aber das Gymnasium, dass wir beide besuchten, befand sich eben hier. Dennoch konnte ich nicht sagen, mit wem er abends noch hätte unterwegs gewesen sein können, wenn ich schon längst wieder daheim gewesen war. Das kotzte mich an! Noch mehr kotzte mich jedoch an, dass niemand wusste, ob Lucas… naja, ob es ein Unfall gewesen war – oder doch Absicht. Aber warum? Weil ich nicht sofort mit ihm gesprochen hatte? Weil ich… ich gebe es zu, dass ich einfach nur feige und zutiefst verletzt gewesen war … in dieser einen Woche zuhause geblieben war? Ich hatte beschissen ausgesehen, klar. Doch nur so hatte ich meinen Eltern glaubwürdig einen bösen Virus vorgaukeln können. Und der Arzt hatte mich ohne große Bedenken krank geschrieben. Vielleicht hatte der was geahnt…
Argh! Diese ganzen Gedanken brachten nichts. Gar nichts. Luca blieb tot – egal, welches Szenario ich auch in meinem Kopf zurecht legte… egal, wie oft ich die ganzen Wenns auch durchspielte… es änderte nichts daran. Nie! Wieder!